Es gibt Koryphäen, die ihr Fachgebiet geprägt haben. Ihre Namen sind mit dem Gebiet auf ewig verbunden, teilweise bis zur Synonymität. Jerry Thomas ist eine dieser Koryphäen – wer sich auch nur ansatzweise mit der Wissenschaft der Mixologie auseinandersetzt, trifft ziemlich schnell auf seinen Namen. Er ist der Roger Federer der Mixkunst, der Pelé der Mischgetränke, der Muhammad Ali des Cocktails. Was machte ihn so besonders? Er war einer der ersten Bartender, die das Potenzial von Cocktails (man hatte damals aber ein sehr viel differenzierendes Vokabular für Mischgetränke hatte als das generische Schlagwort „Cocktail“ wie heute) erkannten, und entsprechend brachte er ein Buch heraus, das nicht nur mit simplen Rezepten, sondern mit einer Taxonomie und einem logischem Aufbau aufwarten konnte; daher gilt er als der Vater der Mixologie, also der rationalen Studie des Mischgetränks.
David Wondrich hat sich mit seinen Büchern und seinen Artikeln über geschichtliche Aspekte der Mixologie einen Ruf als Cocktailhistoriker erworben. In dem kurz und knackig betitelten Imbibe! From Absinthe Cocktail to Whiskey Smash, a Salute in Stories and Drinks to „Professor“ Jerry Thomas, Pioneer of the American Bar, das noch den Untertitel Featuring the Original Formulae for 100 Classic American Drinks and a Selection of New Drinks Contributed in his Honor by the Leading Mixologists of our Time trägt, erinnert Wondrich uns an diesen Heroen hinter der Theke, dessen Rezepte und Vorgehensweise beim Mixen bis heute nachwirken.
Selbstverständlich handelt es sich nicht einfach nur (aber auch!) um eine kommentierte Neuausgabe von Jerry Thomas‘ How to Mix Drinks: Or, The Bon-vivant’s Companion, sondern um eine Untersuchung der damaligen Cocktailkultur. Andere legendäre Bartender der Zeit, wie George J. Kappeler, William T. “Cocktail” Boothby oder Harry Johnson dürfen auch Rezepte und Anekdoten beisteuern, und zeigen, dass Thomas zwar ein Titan seiner Zunft war, aber beileibe nicht in einem Vakuum lebte.
Historische Umstände, wie die erstaunliche Bedeutung der leichteren Erhältlichkeit von Eis ab den 1830ern für Cocktails, werden von Wondrich ebenso analysiert wie etymologische Grundlagen (warum wurde der John Collins zum Tom Collins? Woher kommt der Begriff „Cocktail“?) oder Veränderungen von Geschmacksvorlieben – ich nenne nur das Stichwort „Zucker“, der damals gern pfundweise in Mischgetränke gegeben wurde. Wichtig für alle Freunde von aktuell so hippen Gincocktails: Damals war Holland gin, heute als Genever bekannt, der Gin der Wahl, nicht die heute den Markt überschwemmenden Ausprägungen des London Dry Gin. Inzwischen habe ich mich auch mit Genever auseinandergesetzt: Diese malzige, gereifte Art des Gin kann sogar mich als Ginskeptiker überzeugen.
In mixohistorischen Kreisen wird gern die Genese zwei der bedeutendsten Cocktails, des Manhattan und des Martini, diskutiert und mit Legenden ausgeschmückt – Wondrich untersucht die Legenden und erläutert, warum manche davon nicht wahr sein können. Wie so oft ist die Wahrheit bei weitem nicht so spektakulär wie die erfundene Geschichte, sondern sogar recht prosaisch.
Stilistisch kann mich David Wondrich voll überzeugen: Er ist ein sehr eloquenter, äußerst humorvoller und kluger Schwaller, der mit vielen exquisiten und ausgefallenen Formulierungen dem eh schon feuchtfröhlichen Thema noch den letzten Kick gibt, wie wenn er den Dry Martini als einen „fiery chalice of unmixed tanglefoot“ beschreibt.
Ich bin schon vor diesem Buch ein großer Fan dieser einfachen, frühen Cocktails gewesen. Das Buch bestärkt mich darin, dass es oft die kleinen, scheinbar so simplen Mixturen sind, die, wenn mit Verve und Qualitätszutaten hergestellt, den besten Effekt im Glas bieten. Dass sie damals auch deutlich nach Alkohol schmecken durften, etwas, das in den 80ern und 90ern nicht mehr so gern gesehen war, stellt er klar – gottseidank ist die moderne Barkultur wieder offen dafür.
The resulting drinks were also delicious, but they demanded a consumer who was acclimatized to the taste of liquor and knew how to stow it away.
Wer mehr über die damalige Alkoholkonsumgesellschaft wissen will, die mit Alkoholgeschmack sehr gut umgehen konnte, kann sich gern bei Ian Williams weiter einlesen.
Zu Ehren des Professors habe ich mir dann auch heute einen dieser rezepttechnisch einfachen Cocktails, die kräftig nach Schnaps schmecken, aus diesem Buch hergestellt, und zwar den, den Jerry Thomas höchstselbst erfunden hat: Den Buck and Breck. Eine etwas aufwändige Herstellung und spektakuläre Präsentation zeigt, dass die Show schon für Thomas klar dazugehörte; er war vielleicht auch der erste Flair bartender.
Buck and Breck
1½ oz Cognac (z.B. Hennessy VS, Wondrich empfiehlt allerdings VSOP)
1 Spritzer Absinthe (z.B. Absinthe Emanuelle)
2 Spritzer Angostura
1 oz Crémant (z.B. Wolfberger Crémant)
In einem Glas, das mit Zitronensaft ausgespült und mit Puderzucker ausgekleidet ist, servieren
Sehr wertvoll finde ich Wondrich’s erläuterte Mengenangaben zu all den Rezepten: bei den notorisch vielfältigen und ungenauen Maßangaben der Originalbücher muss man schon vertiefte Ingenieurskenntnisse haben, um diese so nachzubauen, wie sie beabsichtigt waren.
Ein wirklich spannendes, unterhaltsames und lehrreiches Buch. Wondrich hat noch weitere Bücher auf Lager, die ich mir garantiert noch zu Gemüte führen werde. Doch erstmal gibts jetzt einen Gin Rickey gegen den schlimmen Durst vom ganzen Rezensieren.
9 Kommentare zu „Der verrückte Professor – David Wondrich’s Imbibe! From Absinthe Cocktail to Whiskey Smash, a Salute in Stories and Drinks to „Professor“ Jerry Thomas, Pioneer of the American Bar“