Es folgt eine weitere Lehrminute in Sachen „Begriffe, die auf Spirituosenetiketten verwendet werden“. Heute: Proof. Ein Begriff, den man heutzutage eigentlich nur noch in zwei Kontexten findet – auf amerikanischen Whiskey-Flaschen, und im Zusammenhang mit besonders starkem Rum, sogenanntem Overproof-Rum. Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Proof ist eine veraltete Maßeinheit für den Alkoholgehalt. In dem Umfeld, in dem wir uns bewegen, wird proof noch redundant verwendet, wahrscheinlich aus nostalgischen Gründen; denn die Umrechnung von proof nach Volumenprozenten ist simpel. Man teile den proof-Wert durch 2 und erhält dadurch den Prozentwert. Die Historie dieses Begriffs ist bei Wikipedia schön beschrieben, auch, woher der Name proof kommt; aber den namensgebenden Schießpulvertest in bewegten Bilder zu sehen, ist doch noch spektakulärer. Nachahmung nur bedingt empfohlen.
Da die Länder, die diese Maßeinheit früher nutzten, Großbritannien, die USA und Kanada, inzwischen auch gesetzlich auf die Angabe von Volumenprozenten umgestiegen sind, zeigt sich durch diesen Begriff auch, wie schwer man sich von einer liebgewonnenen Tradition trennt, selbst, wenn sie eigentlich keinen Sinn mehr macht. Der Rittenhouse Straight Rye Whiskey 100 Proof Bottled in Bond ist eine der wenigen modernen Marken, die den Begriff des proof sogar zentral als Namensbestandteil nutzt und sehr prominent auf dem Etikett platziert.
Ein hoher Alkoholanteil in einer Spirituose ist allerdings, so ehrlich muss dann schon sein, absolut kein Marketinggag, das schlägt sich im Geschmack nieder. Das ist übrigens nicht nur bei Whiskey, sondern bei fast allen Spirituosen so – wenn Sie also das nächste mal vor dem Likörregal stehen und überlegen, ob Sie die Amaretto-Billigmarke für 5€ mit 21% nehmen, oder den Disaronno für 10€ mit 28%, greifen Sie sich den mit mehr Alkoholgehalt.
Auch beim Rittenhouse Rye ist das spürbar. Vanille dominiert die Nase, dabei ist aber auch schon eine hintergründige, mentholige Würze erkennbar. Etwas Plastikkleber. Bis hierher könnte man denken, dass man einen Bourbon vor sich hat.
Im Mund glaubt das dann keiner mehr. Die Roggenwürze schlägt mit Karacho ohne Vorwarnung zu, viel Pfeffer, noch etwas Vanille und Karamell, dazu erkennbar Eiche aus dem Fassholz. Dabei immer noch mildsüß und feinherb, vielleicht dunkelschokoladig. Im Abgang fantasiere ich mir dann Kokosnussfleisch, Holznoten und Studentenfutter zusammen. Sehr deftig, etwas salzig, insgesamt stark und adstringierend. Langanhaltend.
50%, das kann man meines Erachtens geradenoch unverdünnt trinken. Gibt man aber einen kleinen Schuss Wasser dazu, öffnet sich der Whiskey – die Nase wird milder, mit weniger Klebernoten, die Vanille kommt wieder stärker zum tragen, eine kleine, gar nicht unangenehme Seifennote entsteht, Fruchtaromen nach Pfirsich oder Aprikose drängen in den Vordergrund. Die Würze ist reduziert. Ich empfehle, das mal auszuprobieren, selbst wenn man grundsätzlich stärkere Aromen mag; ich bin ein Fan leichterer, volatilerer Gerüche und Geschmäcker, und diese bietet ein verdünnter Rittenhouse Rye en masse. So wird aus dem wuchtigen Bomberpiloten ein eleganter Segelflieger, der seine Roggenwurzeln ganz besonders im Abgang aber nicht vergisst: Eine sehr gelungene Melange.
Ganz besonders in Cocktails kommen die üppigen 50 Volumenprozent schön zur Geltung. Sobald Saft oder Likör in einer Rezeptur auftauchen, wird es für die Hauptspirituose immer etwas schwierig, sich gegen diese Rabauken der Cocktailwelt durchzusetzen. Da schadet eine gewisse Wehrhaftigkeit nicht, die der Rittenhouse Rye 100 Proof ganz gewiss aufweist: zu begutachten beispielsweise in einem New Brunswick Cocktail.
New Brunswick Cocktail
2 oz Pink-Grapefruit-Saft
1 oz Rittenhouse Rye 100 Proof Bottled in Bond
1 Teelöffel Limettensaft
1 Teelöffel Zuckersirup
…mit 1 oz Carpano Antica Formula…
…und 2 Spritzer Lemon Bitters toppen
Wenn Sie im Leben nur einen einzigen Rye Whiskey kaufen wollen, dann würde ich Ihnen diesen hier empfehlen; und wenn Sie ihn dann noch für Cocktails suchen, gilt die Empfehlung sogar noch mehr. Auch wenn die etwas gewöhnliche Flasche und das vergleichsweise langweilige Etikett auf Billigware hindeuten – der Inhalt ist spitze.
Merk ich mir. Vor allem weil ich im Leben noch nie einen Rye Whiskey getrunken hab. Glaub ich. Mit Mezcal hab ich übrigens ernsthaft geforscht. Naja, OK, den Dealer gefragt. Der hatte Gusano Rojo im Regal. Riecht nicht besonders vertrauenerweckend…
Überall, wo Viehzeug in der Flasche ist, kannst Du Dir sicher sein: Touristenware für die Anfänger, die von nichts eine Ahnung haben (ehrlich ohne Dir irgendwie nahetreten zu wollen!):-). Kein Mezcalero, der auch nur ansatzweise was von sich hält, würde so eine Raupe in die Flasche geben…
Dacht ich mir schon. Dann hab ich halt eine 3-Euro-Alkoholiker-Miniflasche als abschreckendes Beispiel mit Raupe und bestell doch mal den Amoroso.