Eine Altersangabe kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, bei unterschiedlichen Spirituosengattungen hat man da verschiedene Gewohnheiten. Bei Cognac beispielsweise kann man Sterne vergeben, bei Scotch Whisky zählt man im Allgemeinen die Jahre auf, bei diversen insbesondere französischen Spirituosen verwendet man die Begriffe „VSOP“, „XO“ und so weiter. Meist ist das klar auf dem Etikett kommuniziert, schließlich ist das eines der wichtigsten Produktionskriterien (ich sage absichtlich nicht „Qualitätskriterien“) für gereifte Spirituosen, oft genug auch preisbestimmend. Ich drehe und wende die Flasche des Saint James Rhum Vieux Agricole, die ich hier vor mir habe, und lese das Etikett, suche nach der Altersangabe, doch finde sie nicht, keine in der Form, wie ich sie oben aufgezählt habe. Scheinbar.
Doch sie ist da, in einer weiteren möglichen Ausprägung, nämlich implizit und unausgesprochen, denn der Begriff „rhum vieux“ ist neben der normalsprachlichen Übersetzung („alter Rum“) als Altersangabe für AOC-Martinique-Rum klar definiert, auch wenn man das halt wissen muss. Um die Bezeichnung „rhum vieux“ führen zu dürfen, muss das Destillat mindestens 3 Jahre im Eichenfass ruhen. Dann dürfte es theoretisch zusätzlich das Prädikat „VO“ tragen, da dies aber eh die gesetzliche Mindeststufe ist, kann man es genausogut weglassen – was hier geschieht. Mindestens drei Jahre in kleinen Eichenfässern haben wir hier also vor uns, diese Angabe der Fassgröße ist dann auch ein weiterer Unterschied zur Kategorie „élevé sous bois / ambré“, bei der statt den kleinen Fässern riesige, mehrtausendliterfassende Holzgefäße genutzt werden. Man sieht, hier sind es die klaren AOC-Regelungen, die definieren, was wir altersmäßig in der Flasche finden, da braucht man deutlich weniger Etikettenplatz für Produktionsdetails. Genug geschwafelt und theoretisiert, rein ins Glas mit dem Brand.

Ein nahezu idealtypisches Terracottarotbraun steht im Glas, mit hellen, orangefarbenen Lichtreflexen. Leuchtend und strahlend, eine wirklich ansprechende Farbe. Attraktive Öligkeit kommt dazu, nicht zu schwer, aber beim Schwenken erkennbar, mit Beinen, die sich an der Glaswand bilden und einzeln sehr gemächlich ablaufen.
Das verleitet einen direkt, zu schnuppern. Die Nase ist vielschichtig, da verbinden sich von Anfang an milde Holznoten mit der typischen Grasigkeit eines rhum agricole, Honig mit Süßholz, eine hübsche Blumigkeit mit feiner Würze, leichte Töne von Nougat mit Aromen von getrockneten Aprikosen und Rosinen. Etwas malzig, minimalst erdig, Ideen von Kalkstein und Staub. Sehr aromatisch, aber trotzdem edel wirkend, sehr überraschend rund für einen vergleichsweise jungen Rum, ein Anflug von Lack ist das einzige Element, das auf Alkoholgehalt (42% ist die Abfüllstärke) hindeutet. Insgesamt eher herb, natürlich für die Kategorie, aber perfekt alle Komponenten miteinander verbindend. Wirklich etwas, an dem ich gerne lange rieche.
Im Antrunk zeigt sich dann aber doch zunächst eine deutliche Süße, natürlich und sauber wirkend, während sich der Brand allmählich im Mund ausbreitet. Eine leichtviskose Textur unterstützt diesen Vorgang, so dass es nicht zu schnell geht, der Rum fühlt sich dennoch frisch und hell an, nicht zu sirupartig. Rund und voll bleibt er dabei, auch, wenn sich im Verlauf dann eine feinherbe Bittere und sanfte Pfeffrigkeit aufbauen, und die Süße etwas zurückdrängen. Klare Zuckerrohrsaftaromen erscheinen nun, leicht mit Anis und Süßholz versetzt, von Vanille und Zimt unterstützt. Sehr deutliche beerige Eindrücke von Brombeeren, fast schon Brombeermarmelade. Gegen Ende spürt man deutliches Feuer, aber nichtmal einen Anflug von Kratzen oder Zwicken, grasig und holzig ist der Rum dann, und zeigt seine zwei Herstellungskomponenten: frischer Zuckerrohrsaft und Eichenholz. Der Abgang ist mittellang, zum Schluss erblüht noch etwas Jasmin, das den gleichfalls entstehenden Eisenton und die leichte Aquariumskiesnote etwas abmildert.
Das ist ein echter Easy-Drinking-Rum, gerade für Einsteiger in diese Kategorie ganz herausragend geeignet, er erhält seine Typizität und bindet aber alles in ein rundes, unkompliziertes und trotzdem ansprechend komplexes Gesamtbild ein. Ja, er könnte schon etwas stärker vom Alkoholgehalt her sein und dann mehr Kraft, Fülle und Charakter entwickeln, aber dennoch: Auch so macht mir der Saint James Rhum Vieux Agricole richtig viel Spaß, ein idealer Rum für jeden Tag.
Natürlich ist er damit auch eine nahezu ideale Cocktailzutat, mit der gleichen Einschränkung der Trinkstärke. Im Firelight ist er mit Abstand die größte Komponente, und hier fallen dann die Frucht- und Zuckerrohrnoten noch deutlicher auf, da die anderen, kantigeren Aspekte durch die anderen Zutaten etwas ausgeblendet werden. Wer an die etwas obskuren Essences of Cuba nicht herankommen kann, nimmt einfach einen Spritzer Kaffeelikör.
Firelight
2oz / 60ml Rhum Agricole Vieux
¼oz / 7ml süßer Wermut
¼oz / 7ml trockener Wermut
1 Spritzer Peach Bitters
1 Teelöffel Falernum
1 Spritzer The Bitter Truth Essences of Cuba: Coffee
Auf Eis rühren.
[Rezept nach unbekannt]
Das ist persönlicher Geschmack, ich weiß, aber mir gefällt die Flasche in ihrem Design grundsätzlich sehr gut, die quadratische Grundfläche, die schön im Glas eingelassenen Details, das edle Etikett mit Braun- und Goldtönen, die mit transparentem Hintergrund aufgebrachten Details. Das wirkt schon sehr hochwertig, auch auf den zweiten Blick – und bei einem „Gebrauchsrum“ wie diesem bin ich auch überhaupt nicht böse über den Blechschraubverschluss, im Gegenteil, das ist praktisch und unkompliziert.
Was soll ich sagen, ich habe 22€ für diese Flasche in einem kleinen Supermarkt in Frankreich auf den Tisch gelegt, und für dieses Geld liefert der Heilige Jakob mehr als zufriedenstellend ab – nein, das wird dem nicht gerecht, das ist ein absurd gutes Preisleistungsverhältnis, völlig irre sogar, wenn man bedenkt, was man sonst für dieses Geld bekommt im Spirituosensektor. Dieser Rum ist allein deswegen schon ein beständiger Gast in meiner Heimbar.