Der moderne Spirituosenfreund ist oft sehr interessiert an den Details des Produkts, das er vor sich in der Flasche hat. Natürlich gibt es immer noch die Mehrzahl der Menschen, die hauptsächlich agnostisch trinken, doch die Gruppe derer, die bewusst und interessiert genießen, wird größer. Und ich hoffe, mit meinem Blog dazu beizutragen, dass Alkoholagnostiker weniger werden und zum einzig wahren Glauben des Schnapstheismus konvertiert werden können. Es gibt viele Abfüller, die diesen Trend vorantreiben, und auch bei ihren Abfüllungen immer detaillierter werden mit Informationen, was sich eigentlich in der Flasche befindet, wie es hergestellt wurde, teilweise sogar mit chemischen Details und Illustrationen von Brennanlagen. Da geht mir persönlich das Herz auf.
Doch es ist ein junger Trend, ein sehr junger. Das sieht man an älteren, aber immer noch vergleichsweise neuen Abfüllungen wie der des Silver Seal Demerara Enmore 2002. Das Etikett ist ein Jammer. Abseits des offensichtlichen Fehlers, dass diese Spirituose niemals 2002 in der heute schon legendären guyanesischen Enmore Distillery gebrannt worden sein kann, weil diese Destillerie da schon ein paar Jahre geschlossen war, sagt es auch nichts über die für heutige Rumfreunde wichtigen „Marks“, die Details über den Brand mitteilen. Nichteinmal das Jahr der Abfüllung ist angegeben, und so muss man aus anderen Quellen herauslesen, dass es wohl 2014/2015 war und der Rum somit 12 Jahre gereift ist; da er in Schottland abgefüllt wurde, gehe ich auch von kontinentaler Reifung davor aus. Immerhin ist die für eine limitierte Abfüllung wichtige Flaschennummer auf dem Rücketikett zu finden, ich habe Flasche 329 von 600. Das soll mich aber nicht davon abhalten, den seltenen Rum aus meiner Lieblingsdestillerie nun einzugießen und für Euch zu verkosten.

Optisch beeindruckt der Silver Seal jedenfalls, wie er stark und fett im Glas steht, mit einer tollen leuchtenden terracottarotbraunen Färbung und einer dicken, öligen Struktur, die schon fast sirupartig wirkt beim Schwenken. Ähnlich viskos ist das Glaswandverhalten, da bilden sich Adern und Beinchen und erinnern fast an eine strukturierte Tapete.
Der Geruch ist voller Honig, verbranntem Zucker, Butter, Nougat und Shortbread, aber auch Trockenblumen und zerriebenen Heidekraut. Es erinnert etwas an lang gereiften, nussigen Sherry. Eine leichte Anisnote kommt dazu, Aprikosen und Bananen. Marzipan und Menthol gehen über in eine Idee von Lack, mit mildem ethanolischem Stechen. Da ist noch etwas würziges, erdig-fleischig-pilziges, das für mich sehr schwer zu definieren ist, leicht ledrig wirkt. Man sieht schon an den sehr unterschiedlichen Eindrücken: das ist ein komplexer, spannender Rum.

Der Antrunk ist extrem süß, voll und breit. Auch hier dominieren noch Honig und Marzipan, zusammen mit dem cremig-öligen Mundgefühl hat man da echt was im Mund. Im Verlauf kommt die erdige Komponente stärker zum Vorschein, das ist fast wie ein Trockenpilzragout, und wenn man auf den Ärmel der Wildleckerjacke beißt. Sehr ungewohnt, umami, fast schon salzig, sehr bitter und nur halbtrocken. Insgesamt hat man das Gefühl, eine herbe, dicke Markknochenbrühe mit Honig zu trinken – das ist spannend, aromatisch, toll.
Ja, natürlich könnte man etwas herablassend die 46% anmeckern, da ginge sich noch mehr mit, sagen wir, heute bei derartigen Abfüllungen gar nicht unüblichen 55% oder noch mehr, aber trotzdem gibt sich dieser Enmore hier eigentlich keine echte Blöße deswegen. Der Abgang ist sehr mentholig, eiskalt, mit langem, aromatischen Nachhall, und hinterlässt eine Textur im Mund, auf der man noch eine Weile herumlutschen und -kauen kann.
Es fällt manchen auch heute noch schwer, teure Spirituosen (und, wenn man ehrlich ist, geht es genau darum – nicht um die Qualität) in Cocktails einzusetzen. Die Schreihälse, die Höllenqualen für die Single-Malt-Vermischer fordern, werden aber immer weniger, und ich habe kein Problem damit, auch Rums wie diesen in einen Brass Rail zu mixen. Ein guter Basisrum tut natürlich auch seine Dienste, aber der kleine, feine Kick aus besonderen Rums macht eben auch den Cocktail besonders.
Brass Rail
1⅔oz / 50ml gereifter Rum
½oz / 15ml Bénédictine
½oz / 15ml Zitronensaft
⅓oz / 10ml Zuckersirup
½ Eiweiß
1 Spritzer Angostura
Auf Eis shaken. In ein Glas abseihen, mit etwas Zimt bestreuen und mit Zitronenzeste garnieren.
[Rezept adaptiert nach Tony Abou-Ganim]
Heutzutage sieht man im Rumgeschäft diese bauchige Flaschenform in der dunkel getönten Farbe sehr häufig, besonders der italienische Edelabfüller Velier hat sie sich als Markenzeichen zueigen gemacht, ich mag sie einfach aufgrund ihrer Kurven – eine tolle Flasche. Der Korken zeigt mir erneut, warum ich auch bei hochwertigen Abfüllungen immer für einen Plastikkorken bin, das Abbrechen des Stöpsels, das folgende Herumgeziehe mit einem Korkenzieher und das Gebrösele am Schluss ist echt kein Spaß. Das silberne Siegel, das man um den Flaschenhals legte, ist schließlich natürlich dem Namen des Abfüllers gedankt.



Für mich ist Enmore so ein Name, der immer einen leichten Schauer über den Rücken laufen lässt (wer sich für Details zu den Hintergründen dieser Destille interessiert, dem empfehle ich die Lektüre von Marco Freyers herausragendem Essay über Guyana-Rum, ich bezweifle, dass jemand weltweit mehr über diese Art Rum weiß als Marco). Ich bedauere sehr, dass ich zu spät in die Spirituosenwelt eingestiegen bin, um die guten alten Stöffchen aus dieser Brennerei noch zu akzeptablen Preisen und in vielen Varianten bekommen zu können, in den 1990er-Jahren wurde das einem praktisch nachgeworfen – die aktuell verkauften Brände von dort, oder selbst die „nur“ der einzigartigen hölzernen Brennanlage entlaufenen, die auch heute noch bei DDL betrieben wird, sprengen mein Budget und meinen Zahlungswillen bei weitem. Um so erfreulicher, dass ich diese Flasche noch für den guten Preis von knapp 100€ beim örtlichen Spirituosendealer erwerben konnte, eine durchaus akzeptable Kirchensteuer für mich als Messdiener in der Schnapstheismus-Kirche. Der eine oder andere hätte die Flasche sicherlich als Wertanlage in den Keller gesperrt – da bin ich allerdings hart, die wahren Rumfreunde trinken ihre gute Ware und spekulieren nicht damit!