Die 2020er-Auflage des Spirituosenwettbewerbs Spirits Selection by Concours Mondial de Bruxelles war eine seltsame. Es war geplant, dass sie in der kolumbianischen Hafenstadt Barranquilla stattfindet, entsprechend hatte ich mich schon auf meinen zweiten Südamerika-Trip gefreut – doch wir alle wissen, was dazwischen kam. Der Notbehelf war, den Wettbewerb in Brüssel stattfinden zu lassen, und so konzentrierte ich mich statt auf kolumbianischen Rum und Aguardiente eben auf belgische Spirituosen, von denen es ja auch zuhauf gibt. Und natürlich wurden erneut viele Masterclasses zu eben diesen dann abgehalten, und Vorträge aus erster Hand präsentiert – ein besonderes Interesse weckte bei mir der Vortrag von Christophe Mulatin, Produktionsmanager der Distillerie de Biercée, deren Hauptprodukt, der Zitronenlikör Eau de Villée, vielleicht eine der populärsten und verbreitetsten Spirituosen in ganz Belgien ist.
Im ganzen Stress hatte ich nach dem Wettbewerb vergessen, eine Flasche davon mitzunehmen – doch mein Freund Ulric Nijs hatte, als gestandener Belgier mit einem entsprechenden Vorrat dieses Likörs ausgestattet, mir danach auf kurzem Dienstweg, wie es ihn so wunderbar zwischen Spirituosenaficionados oft gibt, schnell ein Geschenk zukommen lassen. Das Eau de Villée trinkt man eisgekühlt, idealerweise legt man die Flasche dauerhaft ins Gefrierfach. Keine Angst, der Alkohol- und Zuckergehalt sorgen dafür, dass hier nichts durchgefriert und die Flasche platzen lässt. Ich habe keine Kühlmöglichkeit, die so eine große Flasche fassen könnte; so fülle ich einfach ein paar Zentiliter in eine kleinere Sampleflasche um und lasse diese permanent im Fach liegen, für den ungeplanten Genuss zwischendurch.
Optisch ist der Likör glasklar und brilliant transparent, selbst im halbgefrorenen Zustand – auf meinem Foto unten sieht man eigentlich mehr die dünne Eisschicht an dem ebenso gefrosteten Glas, eine Vorgehensweise, die ich sehr empfehle, denn dadurch bleibt die Kühlung des Likörs selbst auch länger erhalten.
Die Nase ist, gibt man dem Eau de Villée ein paar Sekunden, um aus der Froststarre zu erwachen, direkt sehr fruchtig – da ist Zitrone, so wie ein gutes Zitronensorbet riecht, weniger die Frucht selbst. Die Bittere der Zeste ist toll eingefangen, Anklänge von milderer Bergamotte gibt es, da ist auch noch etwas Frisches, Grünes drin, vielleicht Borretsch oder Kardamom, sicher aber Minze. Lässt man etwas mehr Temperatur und Offenstehzeit zu, entdeckt man die Neutralalkoholbasis, ohne Zwicken, aber mit den typischen Aromen.
Für einen Likör ist der Antrunk gar nicht mal so süß, wie man es sicher erwartet hätte. Nein, er ist sogar eher herb, recht klar, die Frische der Zitrone und die Pfeffrigkeit von Minze gehen von Anfang an direkt steil. Eine feine Textur, nicht zu schwer, aber doch etwas ölig, sorgt für ein sehr angenehmes Mundgefühl, gerade in Kombination mit der Kälte aus der Frostung ein wirklich attraktives Gefühl. Im Verlauf wird das Eau de Villée sogar pikant, noch später fast schon scharf, sicher nicht aus den 40% Alkoholgehalt stammend, sondern aus ätherischen Zitrus- und Minzölen, da ist fast schon ein mentholischer Charakter gegen Ende. Durchgängig bleibt die Zitrone bei uns, hier nun wirklich an eine frische Amalfizitrone mit dicker Albedoschicht erinnernd, mit milderer Bergamotte als Unterbau. Der Nachhall ist neben der für mich wirklich sehr spannenden Kardamomnote und der pfeffrigen Pikanz, die die Zungenspitze anästhesiert und kitzelt, mittellang, bildet trotz der Süße des Likörs eine sehr prägnante, schon adstringierende Bittere aus, die effektvoll den Gaumen lange belegt. Diese Vielschichtigkeit macht das Eau de Villée für mich zu einem wirklich gut pur trinkbaren Digestif, das macht echt Spaß, vor allem, wenn man wie ich Zitronen liebt.
Das Eau de Villée lässt sich aber eigentlich auch überall in Drinks einsetzen, wo nach Zitronenlikör oder auch Limoncello gefragt wird – die Transparenz der Flüssigkeit macht es dabei sogar noch flexibler verwendbar. Der Procrastination Cocktail kombiniert es mit Gin, eine wirklich passende Paarung, um die Kräuterkomponente des belgischen Likörs wie des Gin noch etwas zu betonen.
Procrastination Cocktail
2 oz Dry Gin
½ oz trockener Wermut
¾ oz Zitronenlikör
1 Teelöffel Chartreuse Verte
Auf Eis rühren.
[Rezept nach Paul Clarke]
Die Flasche des Eau de Villée gehört zu den Strukturbrechern in der Heimbar. Sie ist sehr hoch, passt kaum in ein Regal, beinahe schon so wie die von Galliano. Die Handhabung ist ähnlich knifflig, denn aus so einer langen Flasche etwas dosiert auszugießen erfordert eine ruhige Hand. Das restliche Design gefällt mir jedoch sehr, die mattierte Oberfläche deutet die Frosterhandhabung schon an, der Verlauf mit dem gelben Blechschraubverschluss macht lautstark auf sich aufmerksam.
Ein unterhaltsames Element meiner Verkostungsrunde von Zitronen- und Zitrusfruchtlikören während meiner Tätigkeit bei Spirits Selection by Concours Mondial de Bruxelles 2020 in Brüssel war, dass ich (trotz Blindverkostung!) recht sicher war, das Eau de Villée in meinem Flight dabei zu haben, denn am Abend zuvor wurde es beim Abendessen als Dessert ausgeschenkt; auf dem Bild oben erkennt man den optischen Ausreißer aber auch ohne vorheriges Probieren zwischen all den gelben Flüssigkeiten deutlich. Nun, das kann man natürlich in dieser Form nicht vermeiden, so sehr man sich auch als Veranstalter um Neutralität bemüht, was Spirits Selection sehr konsequent durchführt. Transparenz, in wörtlicher wie übertragener Form, sozusagen!