Das Verwenden von Pflanzen zur Heilung des geschundenen Körpers ist eine weltweit uralte Praxis – wir brauchen da gar keine anthropologische Kulturanalyse erstellen und darüber diskutieren, ob die alten Griechen oder die alten Chinesen die ersten waren, die sich mit Pflanzenheilkunde auseinandersetzten: schon Tiere essen, wenn das Bäuchlein grummelt, bestimmte Pflanzen. Manche Vögel nutzen antibakterielle Kräuter, um ihr Nest damit auszustopfen, Ameisen bekämpfen Pilzparasiten in ihren Körpern mit hochgiftigen Stoffen, Elefantenmütter erleichtern ihre Geburtswehen durch das Kauen bestimmter Baumblätter, die Hauskatze kotzt viel entspannter, wenn sie Gras frisst. Wir stehen also in bester Tradition, wenn wir mithilfe pflanzlicher Medikamente unsere chronische Wohlstandsverstopfung klären.
Der zivilisierte Homeofficearbeiter will im Gegensatz zum tumben Tier dazu aber natürlich nicht in den Wald gehen und Bäumen ihre Rinde abnagen. Idealerweise wird die meist bittere Arzenei in praktischer und sogar wohlschmeckender Form verabreicht, so dass es Spaß macht, sich um die eigene Gesundheit quasi im Vorübergehen zu kümmern. Und wenn dann noch der Hauptbestandteil hochprozentiger Schnaps ist, wie beim Zhuyeqing Jiu 10 (竹叶青酒10), so sage ich ganz ohne ironisch das Gesicht zu verziehen beim abendlichen Medikamentieren: Zum Wohle! 10 Jahre alter Leichtaroma-Baijiu wird 3 Wochen mit Bambusblättern und einem Dutzend Kräutern, die sonst in der traditionellen chinesischen Medizin Einsatz finden, infundiert. Er wird dann noch mit einer Süßung von 65g/L Rohrzucker versehen, um ihn geschmeidig zu machen. Ich gieße mir jetzt einfach eine erste Dosis ein, um die Therapie zu beginnen.
Die Farbe der Flüssigkeit wirkt schonmal etwas medizinisch – ein kristallklares Grüngelb, das mich zumindest an französische Kräuterliköre oder Absinthe erinnert. Der Zhuyeqing Jiu bewegt sich auch etwas schwerer im Glas, als man das vom typischen Leichtaromabaijiu gewohnt ist, natürlich spielt der Zucker hier auch etwas mit. Das Glaswandverhalten ist unauffällig, es bilden sich Beine, die sehr schnell aber wieder verschwunden sind und kleinen Tröpfchen Platz machen, die wiederum eine Weile stehen bleiben.
Der Geruch ist direkt faszinierend. Ich weiß zunächst gar nicht, in welche Richtung ich schnuppern soll. Der Basisgeruch ist sicher der typische eines Leichtaroma-Baijius, getreidig, nach gedünsteter Hirse, grasig und grün. Darüber liegt aber eine bunte Mischung aus kräuterigen und grasigwürzigen Aromen, Liebstöckel allem voran, Koriander und Petersilie. Fenchelsamen sind deutlich erkennbar, und eine leichte Nussigkeit. Ich weiß leider nicht, wie Bambus genau riecht, das muss ich nachholen, ich nehme aber an, dass dessen Aroma die obigen irgendwie ausmacht. In der Kopfnote liegt etwas Bergamotte, die fast schon in Spülmittel übergeht. Insgesamt ein sehr vielschichtiges Set an Eindrücken, so hätte ich das nicht erwartet, mir gefällt es sehr.
Der Antrunk beginnt süß, der zugesetzte Zucker wird spürbar, ein schön weiches Mundgefühl mit voller Textur bildet sich. Die Kräuteraromen blühen dann auf, tatsächlich aber zunächst die, die wir im Westen wahrscheinlich eher zum Kochen in einer Brühe einsetzen würden. Ich habe es teils schon erwähnt – Liebstöckel und Koriander, Ingwer kommt dazu und gibt neben seinem Geschmack auch etwas Schärfe. Cola und etwas tropische Frucht meint man hier noch zu finden, auch die Bergamotte meldet sich. Eukalyptus und andere grün wirkende Komponenten kann man erahnen, ein insgesamt wirklich komplexes Bild, unterstützt vom sich zwar zurückhaltenden, aber aromatisch schon vorhandenen getreidelastigen Baijiu.
Im Abgang entsteht sogar eine schöne, kandiszuckerbefeuerte aromatische Würze, die sich schnell in Wärme umwandelt und unkompliziert den Rachen hinunterläuft. Insgesamt wirkt das kurz, eine leicht lakritzige und auch hier gartenkräutergesteuerte Hustenbonbonnote klingt noch etwas am Gaumen nach. Der Zhuyeqing Jiu fühlt sich sehr trinkbar und genehm an, gerade die, die schon etwas Baijiuaromen entdecken, aber sich dem harten nordchinesischen Brand nicht ungeschützt aussetzen wollen, finden hier einen gut gemachten und gefälligen Einstieg, insbesondere, wenn man Kräuterliköre mag.
Im Originalrezept des Sleeping Lotus wird als Hauptspirituose Dry Gin eingesetzt. Das auszutauschen gegen den Bambusbaijiu ist ein leichtes – der Unterschied ist dann aber doch groß genug, um mich dazu zu bringen, den Namen des Drinks zu wechseln. Der Sleeping Bamboo wirkt natürlich etwas weicher und süßer als seine Inspirationsquelle mit Gin (darum habe ich auch die Mengen für Orgeat und Zitronensaft getauscht), aber nicht weniger unterhaltsam und hat durchaus mehr Exotik, selbst für einen Tiki-Drink! Ich merke immer mehr, Baijiu und Tiki, das geht echt gut zusammen.
Sleeping Bamboo
2 oz / 60ml Zhuyeqing Jiu 10
1 oz / 30ml Orgeat
¾ oz / 25ml Zitronensaft
2 Spritzer Orange Bitters
10 Minzblätter
Auf Eis shaken. Mit crushed ice servieren.
[Rezept basiert auf dem Sleeping Lotus von Sierra Kirk]
Bei der Verpackung schlägt der Hersteller voll in die Opulenzschiene – das ist auf den ersten Blick beeindruckend, auf den zweiten Blick allerdings schon sehr kitschig, ehrlich gesagt. Wie bei vielen Produkten dieser Präsentationsart wirkt die Keramikflasche mit Plastikausgießer und dem plastikgoldenen Schraubverschluss nur auf die Ferne betrachtet edel, dahinter bröckelt der Charme schnell. Immerhin ist der üppige Geschenkkarton wirklich sehr stabil, innen ausgelegt mit goldenem Samt; diese Details sorgen dann am Ende in toto doch für einiges an Geschenkpotenzial.
Um den Bogen auf die Einleitung zurückzuschlagen – natürlich ist dieser Kräuterschnaps keine Hilfe, um die eigene Gesundheit zu pflegen, sondern ein ebenso uralter Marketingtrick, wie bei allen hochprozentigen Kräuterkonkoktionen, die angeblich das Leben verlängern, bei denen letzlich aber der schädliche Effekt des Alkohols alle Mühe der gesundheitlich eventuell tatsächlich sehr wirksamen Pflanzenwirkstoffe zunichte macht. Darum weise ich hier nochmal gesondert darauf hin: Zu Risiken und Nebenwirkungen einer ausgedehnten Therapie mit derartigen Produkten frage man bitte nicht Schnapsblogger, sondern den Arzt oder Apotheker.
Ein Kommentar zu “Süße Medizin – Zhuyeqing Jiu 10 (竹叶青酒10)”