Blind zu verkosten (also zu probieren, ohne zu wissen, was man im Glas hat) ist ein zweischneidiges Schwert. Es gehört mit zum Handwerk des Kenners, sicherlich, denn hier allein zeigt sich, ohne jede Beeinflussung durch bewusste oder unbewusste Faktoren, was das Produkt am Ende abliefert. Auf der anderen Seite sind mir persönlich Produktionsfaktoren extrem wichtig, die sich nicht immer automatisch im Geschmack äußern – als Beispiel nenne ich mal Biofleisch oder Fairtrade-Kaffee, bei denen es außerhalb des Sensorischen qualitätsbestimmende Merkmale gibt. Ich habe in schmerzhafter Weise in vielen Bereichen gelernt, dass persönlich wahrgenommener „guter Geschmack“ nicht mit Qualität gleichzusetzen ist. Und umgekehrt. Marken, die man mag, können schlechter abschneiden als die, die man hasst, und hin und wieder kommt man in moralische Zwickmühlen, die es aufzulösen gilt, wenn man es ernst mit sich selbst und der Spirituosenwelt meint.
Ein für mich verwirrender Effekt war darum, als ich Anfang des Jahres bei einem umfangreichen Kaffeelikör-Vergleichstasting auf einen Kaffeelikör stieß, der im aggregierten Endergebnis aller Tester auf Platz 3 landete. Damals wusste ich, wie gesagt, noch nicht, was ich da im Glas hatte. Bei einem davon unabhängigen Tasting von Aromas of México wurde mir der Herencia de Plata Licor de Café des Herstellers Tequilas del Señor (NOM 1124) ein paar Monate später nochmals präsentiert, und ich war sehr überrascht, dass sich meine damaligen Verkostungsnotizen und die neuen kaum noch überschnitten. Ich will hier ehrlich sein und diesen Zwiespalt, in dem ich vor dem Schreiben dieses Artikels daher steckte, ansprechen, in der Hoffnung, dass meine Leser verstehen: Die Verkostungswelt ist eine seltsame, man sollte sich nicht auf einen einzelnen Eindruck verlassen. Manchmal hat man zuvor etwas unpassendes gegessen, die Stimmung war schlecht, die Umgebung passte nicht, das Nosingglas war nicht sauber – und ein paar Tage später sieht die Welt wieder fröhlicher aus, ein neutraler Gaumen und professionellere Umgebung sind gegeben, und hoppla, das Sample schmeckt besser; wer glaubt, einen objektiven, absoluten Gaumen zu haben, der lügt sich in die Tasche, zuviele unbewusste Faktoren beeinflussen das. Ja, sogar beim Blindtest. Was ich hier nun wiedergebe, ist darum ein Sammeleindruck, gesammelt also aus 3 unabhängigen Verkostungen aus 3 separaten Quellen an unterschiedlichen Tagen.
Gießt man sich den Herencia de Plata Licor de Café ins Glas, sieht man beim Schwenken schon, dass sich ein dicker bräunlicher Film auf die Glaswand legt. Die Farbe der Flüssigkeit selbst ist tiefdunkelbraun, nur an den Grenzen sieht man bei Gegenlicht ein paar orangebraune Reflexe. Eine gewisse Viskosität ist sicht- und spürbar.
Die Nase wirkt sehr süß, mit vielen Kakao- und Milchschokoladenoten, eher noch als Kaffee. Letzterer taucht am Rande auf, wirkt eher als Beikomponente denn als Hauptaromaträger. Vanille kommt schnell dazu, das ergibt eine süßliche Kaffeemelange, vielleicht so etwas wie Cappuccino eher als reinschwarzer Filterkaffee. Den eingesetzten 100%-de-Agave-Tequila (der hauseigene Blanco von Herencia de Plata wird hierfür natürlich verwendet) rieche ich höchstens als leichte Note, wenn man weiß, wonach man schnuppern muss, selbst dann aber eher mit viel Fantasie.
Ein Likör muss per gesetzlicher Definition mindestens 100g/L süßende Erzeugnisse enthalten, darum wundert es nicht, dass der initiale Geschmackseindruck extrem süß wirkt. Im Mund fühlt sich der Herencia de Plata Licor de Café extrem dicht an, die Textur ist superschwer und ölig, so dass sogar am Ende noch etwas zum Lutschen auf den Lippen verbleibt. Auch am Gaumen nehme ich aber zunächst Schokoaromen wahr, weiche Alpenmilchschokolade, fast schon buttrig. Im Verlauf entsteht deutliche Würze, der Kaffee kommt etwas auf, bleibt aber insgesamt zurückhaltend; das ist zumindest der Hinweis, dass echte mexikanische Arabica-Kaffeebohnen eingesetzt wurden und keine künstlichen Aromastoffe, mit denen man viel leichter und billiger Kaffeegeschmack erzeugen könnte. 30% Alkoholgehalt sind weder spür- noch schmeckbar.
Der Abgang ist mittellang, leicht pfeffrig und auf der Zunge kribbelnd, und sehr blumig, mit vielen Jasmintönen und Erinnerungen an Fruchtkaugummi, und zu guter letzt auch einem Anflug von Agaven. Eine etwas klebrige Süßschicht bleibt auf dem Gaumen, der Zunge, den Lippen bestehen, da hat man dann noch etwas Arbeit, das wieder abzubekommen, was den Genuss noch verlängert.
In dem oben angesprochenen zweiten Tasting mit Tequilaanfängern kam dieser Likör extrem gut an, was für mich darauf hindeutet, dass er mit etwas Eis ein sehr hübscher Dessertersatz sein kann – im Hause Schlimmerdurst ist ein Kaffeelikör aber hauptsächlich eine gern gesehene Cocktailzutat, die Schwere, Süße und leichte Aromatik in einen Drink bringt. La Infidelidad, „die Untreue“ also, kombiniert ihn mit Rum, Amaretto und Gewürzen, und verstärkt damit sogar noch den Nachtischcharakter dieses Likörs – das Ausräuchern des Glases als Ersatz für eine Zigarre ist auch ein gerngesehenes Gimmick in besonderen Drinks.
La Infidelidad
1½ oz gereifter Rum
1 oz Kaffeelikör
½ oz Amaretto
3 Nelken
½ Zimtstange
Auf Eis rühren.
In einem mit einer Zimtstange ausgeräuchterten Glas auf Eis servieren.
[Rezept adaptiert nach der El Coro Bar, Santa Clara]
Vorsicht, die Flasche hat einen Plastikschraubverschluss, was man zunächst nicht vermutet – ich hatte in Erwartung eines Korkens an dem dicken Holzstöpsel wild gezogen, zum Glück hat er es trotzdem überlebt. Ansonsten ist die bauchige, runde Flasche ein bisschen unhandlich in einer Heimbar, das hübsche Etikett dagegen gefällt mir in seiner Retro-Gestaltung.
Um zurückzukommen auf die Einleitung – über den Geschmack haben wir nun geredet, doch hier gibt es eben genau solche Produktionsfaktoren, die man nicht unbedingt direkt im Blindtest schmeckt: Ohne Zusatz von Farb-, Aroma- oder Konservierungsstoffen, und ohne Gentechnik hergestellt, aus qualitativ hochwertigem Tequila und echtem Kaffee. Das sind Faktoren, die man in der modernen Spirituosenwelt sehen will, und ein Wert für sich. Zumindest für mich. Dass der Herencia de Plata Licor de Café dann auch zweimal eine Goldmedaille beim Spirituosenwettbewerb Spirits Selection by Concours Mondial de Bruxelles gewonnen hat (wo natürlich konsequent blind verkostet wird), bei dem ich auch seit mittlerweile 4 Jahren als Juror unterwegs bin, setzt dem ganzen dann noch ein kleines goldenes Krönchen auf.
Wer sich übrigens für die Ergebnisse des am Anfang angesprochenen Kaffeelikörtastings interessiert – die Auswertung ist inzwischen verfügbar, und der Organisator Ilja hat ein aussagekräftiges PDF dazu erstellt. Dort findet man auf Platz 3, wie erwähnt, den Herencia de Plata Licor de Café. Man muss sich also nicht allein auf meine Aussagen verlassen.
Offenlegung: Ich danke Aromas of México für die unaufgeforderte, kosten- und bedingungslose Zusendung einer Flasche dieses Produkts.
2 Kommentare zu „Agnostische Agaven und blinde Bohnen – Herencia de Plata Licor de Café“