Naive Volkskunst – Clairin Sonson

Clairin Sonson Titel

Gut gemachte Spirituosen bringen mich immer wieder dazu, über den Tellerrand des reinen Brands zu blicken. Kaum hatte ich die Flasche des Clairin Sonson zuhause, begann die Illustration auf dem Karton und dem Etikett mich in ihren Bann zu ziehen; ich versuchte, mich etwas mit Naiver Kunst und Volkskunst auseinanderzusetzen. Im Fall dieser Abbildung einer rotgekleideten Meereskönigin mit blauem Halstuch, die von zwei Meerjungfrauen mit Fischunterkörper mit Kerzen beleuchtet wird, vor einem Hintergrund des blauen Meers und einem Himmelsmuster (der Lauf der Sonne?) vermute ich stark, dass eine lokale Mystik oder Religion dahintersteht. Hier gehen wohl die beiden erwähnten Kunstkategorien ineinander über; auch wenn Volkskunst eher gegenständlich oder immateriell definiert wird und mit praktisch im Alltag einsetzbaren Objekten und Kultur verbunden ist, sehe ich hier deutlich einen stark regionalen Bezug, was eine der Abgrenzungen zur im Allgemeinen nicht direkt mit so einem Bezug versehenen Naiven Kunst wäre. Der Verzicht auf die für Rum so abgeschmackten Piraten-, Palmen- und Schifffahrtsmetaphern, und der Einsatz eines Kunstwerks eines ungenannten lokalen Künstlers (es stammt wohl aus Jacmel, ich arbeite daran, herauszufinden, wie der Maler heißt), sollte jedem deutlich machen, dass wir hier ein besonderes Produkt vor uns haben.

Passend zur Illustration haben wir auch in der Herstellung einen sehr natürlichen Prozess vor uns, komplett unindustrialisiert und praktisch ausschließlich von Menschenhand oder Tierrücken durchgeführt. In der Nähe des Dorfs Cabaret, in der Mitte des Landes, ein wenig nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince, finden sich die Zuckerrohrfelder, auf denen auf 25 Hektar die Varietät Madame Meuze angebaut wird. Aus der 2018er Ernte des Zuckerrohrs wurde Saft gepresst, aus dem Saft ein Sirup hergestellt, der dann über wilde/freie Hefen fermentiert wurde. Stephan Kalil Saoud, Brenner bei der Distillerie Clairin Sonson Pierre Gilles, brannte dann diskontinuierlich mit einer Brennblase, die mit offenem Feuer beheizt wird, daraus ein Destillat, das mit 53,2% (pot still proof), also ohne weitere Verdünnung abgefüllt wurde, wie es aus der Destille läuft. Und von dort einige Zeit später in mein Glas, das ich nun in Gedanken über die geheimnisvolle Meereskönigin mit ihren Meerjungfrauen versunken langsam verkoste.

Clairin Sonson

Über eine perfekte, kristallklare Transparenz ist es immer schwer, etwas zu erzählen, sie ist hier die Leinwand für alles folgende. Eine mittlere Viskosität, die sich nicht extrem an die Glaswand klammert, aber dennoch einen schönen Film dort hinterlässt, zeigt sich beim Schwenken.

Bei manchen Spirituosen denkt man, wenn man die Nase ins Glas hält, hoppla, was ist denn das. Der Clairin Sonson ist definitiv so eine Spirituose – eine Sammlung eher ungewöhnlicher Eindrücke schwappt hervor. Grüne Oliven, Salmiakpastillen, Kapern, Fenchel, die maritim-salzigen Aromen eines mit Algen übersäten Sandstrands am Meer, Spargel. Wirklich ausgesprochen grüngemüsig. Eine sehr deutliche Zuckerrohrsaftnote liegt über allem, mehr noch als bei diesbezüglich kräftiger Cachaça. Ein gewisser Acetonton wie von Pinselreiniger ist unverkennbar, und auch dieser gebrauchte-Tennissocken-Geruch, den ich von manch einem Baijiu kenne. Wie gesagt, ungewohnt, und auch gewöhnungsbedürftig, aber sehr interessant.

Clairin Sonson Glas

Eine ebenso maritime Salzigkeit beginnt direkt zu Beginn, den Gaumen zu kitzeln. Eine extrem volle Textur füllt alles aus, mit sehr starkem, fast schon glutamatartigem umami. Die Oliven, inklusive Lake, springen einen regelrecht an, unterlegt mit Sellerie und einer kräftigen Säure, die aber nicht spitzig wirkt, sondern durch die zugrundeliegende, wildaromatische Süße aufgefangen ist. Ein sehr rundes und extrem breites wie tiefes, aber dabei völlig ungezähmtes Gesamtbild entsteht aus der Aromatik und der wirklich spürbaren Kraft des Alkohols, der sich wie eine Farbe in die Palette einfügt. Vom Eindruck fühle ich wirklich das Meer, und mich wundert die Wahl der Flaschenillustration überhaupt nicht mehr, die Königin mit ihren Füßen im Meer trifft den Inhalt der Flasche zu hundert Prozent.

Der Abgang des Sonson ist effektvoll, erneut salzig und mit lang anhaltendem, eukalyptischem Kühlegefühl, das man beim Atmen spürt. Deutliche Gemüsebrühearomen, viel Karotte, etwas Sellerieknolle, hängen lange nach. Vielleicht ist der Brand in der Flasche ebenso als Kunstwerk zu sehen, wie die Illustration auf ihr – so ein multisensorisches, fast schon synästhetisches Erlebnis hebt für mich persönlich den Wert eines Produkts ganz enorm.

Daraus kann man herrlich einen sehr salzigen Ti’Punch machen, der einen umhaut und an den haitianischen Strand bei Cabaret versetzt. Oder man geht einen etwas weiteren Weg, pusht den Ti’Punch noch mit etwas Ananas und Chartreuse, und macht daraus einen Unique Bird. Und das ist dann wirklich ein extrem einzigartiger Drink mit Wowpotenzial, den man nicht so schnell vergisst.

Unique Bird Cocktail


Unique Bird
2 oz Clairin / ungereifter rhum agricole
½ oz Limettensaft
¼ oz Ananassirup
¼ oz Chartreuse
Auf Eis shaken.

[Rezept nach Connor O’Brien]


Die Flasche selbst ist ohne erwähnenswerte Merkmale, höchstens, dass sie vergleichsweise hoch ist und damit nicht in jedes Standardregal passt. Das Etikett muss dagegen schon erwähnt werden – wie schon bei den Vorgängern in der Reihe „Spirit of Haiti“ findet man hier die oben erwähnte, faszinierende Illustration, und dazu einige Informationen zur Produktionsweise, die ich eingangs ebenfalls schon erläutert habe.

Ich konnte kurz vor Release des Clairin Sonson an einem Tasting von Velier/Kirsch Import teilnehmen, und kaum hatte ich den Sonson etwas probiert, wusste ich, dass ich eine ganze Flasche von diesem Clairin haben wollte.

Clairin Sampleset 2021

Der Neuzugang zu der „Spirits of Haiti“-Reihe zeigt sich besonders im Vergleich als spannend; wer denkt, ach, ich habe schon eine Flasche Clairin zuhause, so unterschiedlich können die ja nicht sein, der sollte das überdenken. Es sind allesamt eigenständige Destillate, mit eigenem Charakter. Vielleicht ist der Sonson nicht der idealste Einstieg in die Reihe (dafür empfehle ich weiterhin den Clairin Sajous, oder vielleicht inzwischen auch den Clairin Communal), er ist aber auf jeden Fall für jeden Freund ungereiften Rums eine wertvolle Investition in ein völlig anderes Geschmacksbild.

Veröffentlicht von schlimmerdurst

Hüte dich vor denen, die nur Wasser trinken und sich am nächsten Tag daran erinnern, was die anderen am Abend zuvor gesagt haben.

Ein Kommentar zu “Naive Volkskunst – Clairin Sonson

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