New York, das verbindet man heute meist mit Wolkenkratzern, dem Times Square und dem Lebensgefühl einer riesigen Metropole. Das war nicht immer so. Tatsächlich ist es noch gar nicht so lange her, dass die Stadt ein Schlachtfeld von rivalisierenden Banden war, die sich bis aufs Blut auf brutalste Art und Weise bekämpften. Wer den Scorsese-Film „Gangs of New York“ gesehen hat, den ich unglaublich gut finde, und vielleicht dann sogar das diesem Film zugrundeliegende Buch von Herbert Asbury gelesen hat, bekommt einen Eindruck davon, welche höchstspannende Geschichte dieser Melting Pot hinter dem modernen Glamour aufzuweisen hat. Die Plug Uglies, die Rip Raps, die Bowery Boys, die Dead Rabbits und andere Gangs leben heute noch in der Folklore weiter. Letztere dienten sogar einer Bar als Namenspaten, die als eine der besten der Welt gilt, wenn man authentische Cocktails aus der Zeit vor der Prohibition trinken möchte – The Dead Rabbit Grocery and Grog. Bill the Butcher hätte sie sicherlich kurz und klein geschlagen, wir zivilisierte Genießer dagegen wollen einen Blick auf das Buch werfen, das die Gründer Sean Muldoon und Jack McGarry zusammen mit Texter Ben Schaffer herausgebracht haben.
Der erste Eindruck des The Dead Rabbit Grocery and Grog Drinks Manual überzeugt – die Materialien sind wohlgewählt, der Hardcover-Einband in hübschem Anthrazit auf Leinen gestaltet. Das Papier ist schwer und dick, mit Mattglanz versehen, was die vielen, oft ganzseitigen Fotos bestens zur Geltung bringt. Die gute Fadenbindung hebt das Buch von vielen anderen derartigen Publikationen ab, ich schätze das sehr, denn so kann man das Buch offen liegen lassen, während man eines der Cocktailrezepte nachmixt, und muss es nicht mühsam mit der Hand oder einem schweren Gegenstand aufhalten.
Nun zum Text. Die Einleitung mit der langen Geschichte über Sean Muldoon und Jack McGarry finde ich, ehrlich gesagt, etwas mühselig konstruiert, ein bisschen schwallend, etwas belanglos – mich interessieren derartige Biografien nicht so sehr, denn so spannend war das Leben der beiden nicht, dass das mich packen könnte – hier wird viel aufgebauscht und das Bartendertum sensationalisiert. Das wird den beiden zurückhaltenden Bartendern meines Erachtens auch nicht gerecht, die ungern im Rampenlicht stehen, wenn ich diese Einleitung richtig verstanden habe.
Muss man also nicht gelesen haben. Glücklicherweise können wir dann schnell zu den Rezepten springen. Diese bringen dann aber eine neue, ganz eigene Problematik mit sich. Wer sich nicht an die Vorgabe der Autoren halten will, die über ihre sehr expliziten Zutatenlisten selbst sagen, dass „for maximum fidelity, the same brand of ingredient should be used“, und darüber hinaus nicht bereit ist, für jeden Cocktail einen anderen Sirup herzustellen, eine andere Spirituose mit einer anderen Frucht zu infundieren, der wird viel Sucharbeit nach Alternativzutaten haben. Jeder einzelne Drink lässt selbst mich, mit meiner wirklich sehr großen Heimbar und Energie, verrücktes auszuprobieren, ins Schwitzen geraten. Sowas macht man einfach nicht auf dauerhafter Basis, außer, man ist derart veranlagt und sieht im Cocktail nicht einen Drink, sondern ein Projekt. Stellenweise meint man, ein obskures Rechtsmedizinbuch über detaillierte Obduktion vor sich zu haben, das sich mit der Vivisektion eines Kaninchens beschäftigt.
David Wondrich schreibt es auf der Buchrückseite in seiner Empfehlung sehr passend: „a grimoire of occult potionology“. Persönlich glaube ich, dass praktisch alle Cocktails, in der Form in der sie im Buch beschrieben sind, nicht für den Hausgebrauch taugen. Für derartige Drinks geht man in die Bar, die macht man nicht daheim, punkt. Entsprechend sehe ich auch die Zielgruppe dieses Buchs nicht im normalen, cocktailinteressierten Heimbartender, sondern im Mixologen und im professionellen Bartender, der eine Inspiration für seine eigene Bar sucht.
Trotz des Lobs bei der amerikanischen Fachveranstaltung Tales of the Cocktail als „Best New Cocktail & Bartending Book 2016“ kann mich das Buch nicht so recht begeistern. Obwohl viele Anekdoten zu den meisten Cocktailrezepten vorhanden sind, lesen diese sich dröge und prosaisch. Das Buch hat, obwohl es dauern davon redet, wie sehr das Dead Rabbit davon lebt, selbst kein Feuer, keine Energie, keine Kraft, und leider auch viel zu wenig Charme und Humor. Gerade letzteres braucht ein Buch, das notgedrungen Aufzählungscharakter haben muss, unbedingt. Diverse andere Bücher machen das viel besser, und diese würde ich dem rezeptinteressierten Leser klar eher empfehlen als das The Dead Rabbit Grocery and Grog Drinks Manual. Wer aber gern mit hausgemachtem Oleo-Saccharum, Tinkturen, Sirups, infundierten Spirituosen und Lime Sherbet hantiert, gern alles selbst macht, keine Mühen, Kosten und Aufwände scheut, obskure Zutaten zu besorgen oder herzustellen, und bis ins letzte Detail geplante Drinks liebt, sollte sich dieses dahingehend zugegebenermaßen beeindruckende Handbuch der Mixologie nicht entgehen lassen.
Klingt wie so ein teuer fotografiertes „Meine-Drei-Sterne-Küche-ist-total-einfach“-Kochbuch
Hm, das wäre mir zu negativ formuliert. Das Buch ist echt toll, und für richtige Cocktailfreaks ein El Dorado, und es wird alles sehr anschaulich und ausführlich erklärt. Man hat aber nie den Eindruck, dass die Autoren so tun, als wäre das „total einfach“ – im Gegenteil, man sieht die harte Arbeit und die Mühe, die hinter diesen im Glas dann so selbstverständlich wirkenden Drinks steckt.