Das gemeinsame Trinken und Essen von Gast und Gastgeber nimmt eine zentrale Stelle in der chinesischen Kultur ein. Bereits in meinem persönlichen Lieblingsbuch, dem chinesischen Klassiker 水浒传 (Shuihuzhuan, wahlweise auf englisch übersetzt als Outlaws of the Marsh, All Men are Brothers, The Marshes of Mount Liang oder leider nur sehr suboptimal auf deutsch als Die Räuber vom Liang Schan Moor) aus dem 14. Jahrhundert stolpern die Helden, die sich gegen eine verbrecherische Regierung aufsässig zeigen, von einem Trinkgelage ins nächste – wie Shi Jin, der Neunfach Drachentätowierte, einem der ersten der späteren Banditenfürsten, denen wir im Buch begegnen. Das stark ritualisierte Anstoßen mit Wein und Schnaps wird genutzt, um Gast-Gastgeber-Beziehungen und auch Hierarchie in einer Gruppe zu definieren, und ist allgegenwärtig in diesem herrlichen, unterhaltsamen, spannenden und lehrreichen Buch, das ich jedem an Literatur Interessierten allerärgstens ans Herz legen möchte.
They drank and enjoyed the Mid-Autumn Festival, and chatted about old things and new.
Aus der Ming-Dynastie, in der das Buch entstand, zurück in die Gegenwart: Zhu Xiaojun, Geschäftsführer der Destillerie Jigongshang Baijiu in Xinyang, ist überzeugt davon, dass auch es auch heute noch der Respekt gebietet, dem Gast einen guten Tropfen (idealerweise natürlich einen aus seiner Produktion) vorzusetzen und mit ihm anzustoßen. Doch die aktuelle Parteiführung in Peking will mit diesem Jahrtausende alten Ritual brechen und wenigstens seine Kader dazu verdonnern, es mit dem Schnaps etwas ruhiger angehen zu lassen. Ob eine Regierung eine Tradition verändern kann? Man wird sehen, ich persönlich bezweifle es, prohibitive Ansätze haben nie auf die Dauer funktioniert. Bis endgültige Ergebnisse dieses Trockenlegungsexperiments vorliegen zeigen wir uns rebellisch wie die Banditen des Liangschan-Moor und gönnen uns nun einen Tropfen von Herrn Zhus Klarem, dem Jigongshan Baijiu.
Natürlich ist ein Baijiu, wie der chinesische Name schon sagt, klar. Dieser spezielle hier ist dazu minimal viskos mit wenigen dünnen, schnell ablaufenden Beinen. Beim Jigongshan Baijiu handelt es sich um Baijiu mit „starkem“ Aroma (浓香 nóngxiāng), der zweiten der vier Hauptgruppen der Baijiu-Aromatik, die wir kennenlernen. Bei starkaromigen Baijius ist die Nase sehr typisch: fermentierte Pfirsiche, vergorene Ananas, Salmiak, Anis – mich erinnert das ganz stark an eine hyperverstärkte Version des Geruchs von weißen Gummibärchen. Sehr durchdringend und ungewohnt.
Der Geschmack ist dann aber noch durchdringender, und noch ungewohnter. Sauer und teerig ist das erste, was mir einfällt – selbst wer teerige Rums oder Mezcal mag, wird hier überrascht. Verbranntes Plastik, weiße Gummibärchen, Anis und Lakritz sind Folgegeschmäcker. Mildsalzig, vom Mundgefühl her warm und weich, die 52% Alkohol sind kaum auffällig. Es gibt bei den westlichen Spirituosen, die wir ja gut kennen, nichts, was auch nur ansatzweise so schmeckt – am ehesten noch vielleicht der weit entfernte, wilde, aggressive, gnadenlose Verwandte des Ouzo, wenn man überhaupt einen Vergleich ziehen will.
Der Abgang ist lang und dann überraschend mild. Wie schon beim Hongxing Erguotou, den ich in der ersten Folge dieser Reihe vorgestellt hatte, ist der Abgang für mich das beste am Gesamterlebnis – der Nachhall ist mildwürzig, noch leicht säuerlich, voller Lakritz, insgesamt spannend, wenn auch nicht wirklich gaumenschmeichelnd.
Ich wohne am Waldrand und habe 3 unterschiedliche Hühnerscharen (ist das das richtige Wort für eine Gruppe von Hühnern?) in der Nähe. Die Hähne dieser Scharen übertreffen sich immer gegenseitig beim frühmorgendlichen Weckruf. Sonnenaufgang und Hahn gehören also zusammen, ganz besonders im aktuellen Jahr des Feuerhahns, und passend zum Bild des durch sein Gekrähe die Nacht verscheuchenden Hahns hier ein Cocktail, der den frühen Morgen zelebriert: Der Xinyang Sunrise. Ob er allerdings wirklich was fürs Frühstücksbuffet ist, lasse ich mal dahingestellt. Er zeigt aber, dass Baijiu und Campari eine interessante Kombi abgeben, und Zitrusfrucht sowieso.
Xinyang Sunrise
½ Orange, gestückelt
4 Minzblätter
2 Teelöffel Honig
Diese Zutaten zusammen muddeln. Dann dazugeben:
2 oz Jigongshan Baijiu
1 oz Campari
3 oz Grapefruit-Saft
…und mit Eis verrühren.
[Rezept adaptiert nach dem Original „Santorini Sunrise“ des Molyvos Restaurant, NYC]
Die spektakuläre goldene Geflügelskulptur in der Flasche spielt auf den Namen des Produkts an – 鸡公山 (jigongshan) bedeutet „Berg des Hahnenfürsten“, und eben diesen Gockelkönig sehen wir wohl in der Flasche auf einem Stück angedeuteten Fels stehen. Der Rest der Flasche, die im Urnenstil gehalten ist, ist ähnlich pompös gestaltet: Goldapplikationen (aus Plastik) am Flaschenhals, ein schwerer Glasstopfen und direkt aufs Glas aufgebrachte Schriftzeichen.
Viele Baijius, das werden wir in dieser Reihe noch öfters erleben, geben sich so üppig-überschwallend in der Dekoration. Während im Westen oder Japan oft inzwischen bei hochwertigen Spirituosen ein dezentes Understatement angesagt ist, darf der Chinese noch beim Betrachten der Flasche ins Schwärmen geraten. Ich wage nicht zu beurteilen, welcher Trend besser oder vernünftiger ist – ich mag beides, solange die Qualität im Behältnis auch stimmt. Tatsächlich ist eben das aber für mich zur Zeit noch sehr schwer zu beurteilen, selbst wenn der Jigongshan Baijiu eine Silbermedaille beim Wettbewerb Spirits Selection by Concours Mondial de Bruxelles 2016 gewonnen hat – auch ich muss mich erst noch in die extrem eigene Aromatik des Baijiu eintrinken. Es ist offensichtlich nichts, was einem auf Anhieb schmecken wird, soviel als Warnung an meine Leser, doch das ist mit vielen Lebensmitteln so, und der ernsthafte Genießer gibt nicht auf, nur weil etwas am Anfang nicht genehm ist, oder?
Nächsten Monat folgt diesem Motto entsprechend eine weitere Folge aus der Reihe „Mit einem Krug Wein zwischen den Blumen“, wo wir die dritte Hauptkategorie des Baijiu, das Sauce-Aroma, kennenlernen werden.
Offenlegung: Ich danke der belgischen Firma Vinopres SA und Spirits Selection für die kostenlose Bereitstellung einer Flasche dieses Baijius. Vinopres SA und Spirits Selection haben mir ganz enorm geholfen, und mich mit einer Reihe von Qualitäts-Baijius versorgt, denn die Beschaffung dieser chinesischen Spirituosen ist in Deutschland sonst sehr schwierig – ohne sie wäre diese Reihe nicht möglich gewesen.
Mal wieder ein sehr interessanter Artikel. Und beeindruckende Recherchedetails, wenn ich das mal so sagen darf. Bei deinen Verkostungsnotizen kam mir allerdings sofort die Erinnerung an einen Baijiu hoch, den ich in Peking vorgesetzt bekam. Und das ist nicht unbedingt die schönste Erinnerung aus dem Reich der Mitte. ;)
Ich empfehle dazu „Der Gourmet“ von Lu Wenfu. Da muß sich der Protagonist die Kulturrevolution permanent erträglich trinken.
Ich freue mich sehr, hier über chinesische Schnäpse zu lesen. Der Ergoutuo ist -neben dem Mao Tai- allerdings der einzige, den ich in Berlin in Asia-Märkten finde. Hinweise darüber, wo man die Schnäpse kaufen kann, wären daher super.
Leider ist das ein heikles Thema. Baijiu ist selbst nach ausgiebiger Recherche kaum irgendwo erhältlich, selbst Online-Shops bieten ihn nicht an. Ich muss mich daher dafür entschuldigen, keine Kaufmöglichkeiten anbieten zu können – sollte irgend jemand eine gute Adresse dafür finden, wäre ich selbst dankbar.