Wenn man heute an die USA denkt, an die Spirituose, die man am meisten mit den USA verbindet, so fällt einem natürlich Whiskey ein, im speziellen Bourbon. 1964 wurde diese Einordnung von Bourbon als „America’s Native Spirit“ sogar in eine Resolution gegossen: So wie Scotch für Schottland oder Cognac für Frankreich, sollte Bourbon als repräsentativ für die USA gelten und entsprechend vermarktet und gehandhabt werden.
Now, therefore, be it
Resolved by the Senate (the House of Representatives concurring),
That it is the sense of Congress that the recognition of Bourbon whiskey as a distinctive product of the United States be brought to the attention of the appropriate agencies of the United States Government (…).
Doch das war nicht immer so. Vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, und auch noch eine lange Weile danach, war es nicht Whiskey, der für die gute Laune der Amerikaner sorgte, sondern Rum, als der „wahre Geist von 1776“, wie man Williams‘ Untertitelwortspiel auch genauso zweideutig passend auf Deutsch wiedergeben kann.
Williams‘ These ist, dass durch die starke Verzahnung der neuen britischen Kolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent mit dem Handel von Rum aus der Karibik ein Spannungsfeld entstand, das zu immer weiter steigenden Unabhängigkeitsidealen bei den Kolonisten führte, und letztlich in der amerikanischen Unabhängigkeit endete. Rum spielte dabei in allen Beziehungen eine wichtige Rolle: Als extrem geschätzte Alltagsdroge, von der sich die Amerikaner nicht mehr abbringen lassen wollten, insbesondere als britische Gesetzentwürfe wie der Molasses Act und der Sugar Act vorgebracht wurden, die die Kolonien gegen das Mutterland aufbrachten; als Ersatzzahlungsmittel für Arbeitskraft und Lebensmittel; als Ass im politischen Kartenspiel zwischen England, Frankreich, Spanien und den karibischen und nordamerikanischen Kolonien; als Wirtschaftsmotor, der den Dreieckshandel mit Sklaven und den wirtschaftlichen Handel zwischen Nordamerika und der Karibik voll am Brummen hielt; und als sozialer Dämpfer, mit dem man Soldaten und Matrosen wie auch Sklaven und Arbeiter unter dauerbedüselter Kontrolle halten konnte – auf Kriegsschiffen besonders relevant, und da Rum einfach haltbarer als Bier und Wasser ist, eine naheliegende Lösung besonders für die Royal Navy bis in die 1970er Jahre.
Ein besonders interessantes, für heutige Ohren abstrus klingendes Einsatzgebiet war übrigens die Verwendung von Rum als Balsamierungsflüssigkeit; so manch hochstehender englischer oder französischer Admiral ließ sich in einem Fass Rum aufs letzte Geleit in die Heimat schippern (zur Freude der Matrosen, die sich so, so schaurig sich das anhört, das eine oder andere Extraglas an Grog herstellen konnten).
Die Mäßigungsbewegung, die die frühen USA später umklammerte, erklärte den Rum zum „demon spirit“ und Lieblingsfeind, der für alle Übel verantwortlich war, und bekämpfte ihn als Stellvertreter für alle Spirituosen besonders. Die Prohibition sorgte schließlich, auch wenn sie ihr tatsächliches Ziel, die Abschaffung des Alkoholkonsums, verfehlte, für den Untergang des Rums in der Gunst der US-Amerikaner. Whiskey war billiger und einfacher zu bekommen, und Nationalismus, der eigene Produkte bevorzugte, und von der Qualität her immer besser werdender Bourbon besiegelten das ganze.
Eine Einsicht habe ich auch durch dieses Buch gewonnen. In diversen Cocktailbüchern findet man den Hinweis, dass ein klassischer Cocktail morgens getrunken wurde. Da stellte sich mir die Frage, wieso Leute schon morgens sich einen Alkoholschub geben müssen. Die Antwort ist die: In der Zeit um den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg tranken die Leute viel Rum. Wirklich viel Rum. Unglaublich viel Rum sogar. Rund einen halben Liter pro Person und Tag war scheinbar keine Seltenheit, fast anderthalb Liter pro Woche der Durchschnitt. Dass man bei so einer Menge schon früh anfangen muss, und dann vielleicht einen dezenteren Einstieg sucht als den reinen Rum, ist klar – da ist ein Cocktail doch schon zurückhaltend und beißt nicht ganz so, morgens um acht in Pennsylvania.
Natürlich gefällt mir nicht, wie Williams französischen rhum agricole, der schon früh als Guildive oder Killdevil bezeichnet wurde, runterputzt. Gewiss ist ein rhum agricole nicht auf Anhieb so genehm wie ein melassebasierter Rum (oder Tafia, wie auf diese Art hergestellter Rum damals genannt wurde), doch je mehr man sich mit der Gattung Rum auseinandersetzt, um so deutlicher wird einem, dass die gewöhnungsbedürftigen Jamaikaner, Haitianer und Martiniquaner eigentlich die „guten“ sind, während die süßen, massenkompatiblen Dessertrums Anfängerrums für Leute sind, die eigentlich gar keinen Rum wollen, sondern Likör. Doch da Williams grundsätzlich nicht mit Hohn und Spott spart, und im 17. Jahrhundert die Produktionsbedingungen gewiss andere waren als heute, will ich ihm das durchgehen lassen.
Interessant ist daher der Verdacht, den Williams gegen Ende gegenüber Bacardi äußert: er vermutet Zusatzstoffe in deren Rum. Einerseits hat Williams Recht, denn viele Rums verwenden heutzutage, und wohl schon länger, einen „beaker of ‚essence‘ of Añejo“, in Form von Zucker, Glycerin und Aromastoffen. Doch es ist weniger Bacardi als vielmehr der von Williams gern gelobte venezuelanische, guatemaltekische und guyanische Rum, der hier besonders mit Zusatzstoffen zaubert.
Trotz ein paar Längen, in denen vielleicht ein Tick zu detailverliebt erzählt wird, ist dies ein äußerst spannendes Geschichtsbuch, das mit einer plakativen These mitreißt, ohne zu boulevardesk zu werden, und vor Einsichten fast platzt, und, fast selten heutzutage, auch Position bezieht. Eine wirklich unterhaltsame, ironielastige Sprache lässt es nie langweilig werden – und es ist nicht so schwierig, dass man nicht zur Lektüre einen leckeren Rum trinken könnte.
3 Kommentare zu „Die Welt dreht sich um Rum – Ian Williams‘ Rum: A Social and Sociable History of the Real Spirit of 1776“