Belgien ist ein mehrsprachiges Land. Die Region Wallonien spricht Französisch, die Region Flandern spricht niederländisch, und es gibt an der Grenzregion zu Deutschland auch kleine deutschsprachige Gebiete. Die Grenze zwischen den Hauptsprachen Niederländisch (rund sechs Zehntel) und Französisch (rund vier Zehntel) läuft ziemlich genau durch die Mitte des Landes, eine fast gerade horizontale Linie von West nach Ost. Sprache ist etwas sehr Definierendes, nicht nur für die Belgier, und darum war ich verwundert, als ich sah, dass ein Grundstein der belgischen Spirituosenkultur, das Elixir d’Anvers, mit einem französischen Namen auftritt; Anvers ist natürlich der französische Name der Stadt Antwerpen, der größten Stadt Flamens und auch Gesamtbelgiens. Ich habe Carl-Ivan Nolet de Brauwere, den Director bei Elixir d’Anvers, gefragt, warum der Likör nicht „Elixer van Antwerpen“ heißt, und die Antwort war einfach – Mitte des 19. Jahrhunderts parlierten Bourgeoisie und Aristokratie das prestigeträchtige Französisch, obwohl der Rest der Stadt durchgängig niederländisch sprach. Das hinderte aber nicht jeden Stand daran, das Elixir gerne zu trinken – vom einfachen Arbeiter bis zum Königshaus nippten alle gern und viel daran, es war für alle erschwinglich und beliebt, der Name ist darum seit 160 Jahren auf französisch geblieben, auch wenn Antwerpen heute eine komplett niederländischsprachige Stadt ist.
Wie bei den meisten dieser Kräuterelixiere ist die genaue Rezeptur unter Verschluss, nur wenige Personen selbst beim Hersteller F.X. de Beukelaer kennen sie. Garantiert wird jedenfalls, dass ausschließlich natürliche Zutaten verwendet werden, in getrockneter oder frischer Form, keine Extrakte oder Aromastoffe. Besonders ist darüber hinaus, dass eine Holzfassreifung stattfindet: Für 3 Monate durchläuft der fertige Likör eine Art Solera-System, mit kleinen Fässern oben und großen Fässern unten in einem Lagerhaus; frischer Likör kommt oben in die Fässer, und dieser wird, wenn weiter unten etwas für eine Abfüllung in Flaschen entnommen wird, zur Nachfüllung benutzt. Insgesamt dauert es rund 5 Monate, bis das Elixir d’Anvers flaschenfertig ist. Soviel Aufwand, da freut man sich dann doch sehr darauf, zu probieren, was das gebracht hat.
Die Flüssigkeit selbst ist ähnlich gelb wie das Etikett, und entstammt dem Einsatz von Safran – man nutzt also natürliche Zutaten selbst für die Färbung. Im Glas sieht man noch, neben der zitroniggelben Farbe, einen minimalen Grünstich. Schwenkt man das Glas, sorgt die ausgesprochen fette Viskosität für einen ähnlich dicken Film, der kammartig und langsam abläuft.
In der Nase fallen zunächst die Kopftöne aus Kardamom, Sternanis und Piment auf, die durch nur geringfügig weniger präsente Orangen- und Zitronenzestigkeit frischfruchtig aromatisiert wird. Etwas Wermutkraut und Anis erzeugen eine Erinnerung an Absinthe, erst dann hat man süßere Eindrücke, aber selbst diese noch mit ätherischen Komponenten, wie Süßholz. Das wird um dann noch fruchtigere Noten, Quitte und Birne vielleicht, ergänzt, ohne wirklich in die Fruchtlikörrichtung zu kippen. Zimt liegt ganz dezent über allem, und auch eine gewisse pfeffrige Gewürznote, die sich mit dem minimalst erriechbaren Ethanol kombiniert. Ein sehr komplexes Geruchsbild, sehr gewürzlastig, man ahnt wirklich schon, dass hier nicht wenige Zutaten ausgewählt wurden.
Das erste, was im Mund dann auffällt, ist natürlich die schwere, dicke Textur, die man schon zuvor mit dem Auge gesehen hatte. Da ist ordentlich zuckrige, aber nie pappig-klebrige Süße drin, was die Textur natürlich unterstützt, so dass sich das Elixir d’Anvers breit am ganzen Gaumen zeigt. Es dauert etwas, bis sich die Aromen langsam entfalten, das ist keine Brechstange, mehr eine sich in Zeitlupe entfaltende Blüte, die dann genau die frischeren Töne von Kardamom, Sternanis und Piment freisetzt, die der Nase sofort aufgefallen waren. Orangen- und Grapefruitzeste geben die kantige Frische ätherischer Öle dazu, Koriander steuert eine leicht grünkraurige Seite bei. Dabei wirkt das ganze sehr rund und aus einem Guss, mit aus Fassreifung entstandenen zarten Übergängen zwischen den Komponenten, eingekapselt in die wirksame, angenehme Süße. Später kommt ein leicht pfeffriges Kribbeln auf, das dann auch den langen Abgang begleitet, wenn die grünen Kräuter nochmal einen kleinen Auftritt haben. Dort fühlt man dann sogar eine gewisse Astringenz, der Gaumen und die Zunge sind minimal anästhesiert, ein langer und angenehm milder Nachhall lässt sich viel Zeit damit, den Mundraum wieder freizugeben. Ein rundum angenehmes Trinkgefühl, man spürt die Vielschichtkeit der Zutaten und die Zeit, die der Likör in der Fassreifung verbracht hat, wird aber von beidem nie überwältigt, im Gegenteil, das ist Easy Drinking, ohne je banal zu werden.


Ich versuche, den Elixir d’Anvers Reserve, den ich in einer Vorabversion der nagelneuen 2023er-Abfüllung noch ohne offizielles Etikett (zum 160. Firmenjubiläum hat man sich bei F.X. de Beukelaer einen neuen Look für diese extragereifte Fassung überlegt) bekommen habe, im direkten Vergleich zum Standardprodukt zu betrachten. Die zusätzliche Zeit, die man diesem Produkt im Eichenfass gönnt – 2 Jahre, also verachtfacht man die Fasslagerzeit! -, hat etwas von dem Grünstich, den ich beim Standard gesehen hatte, entfernt. Paradoxerweise wirkt die Nase etwas frischer, heller, da ist erkennbar weniger Wermutkraut präsent, aber auch praktisch keine Ethanolnote mehr. Der Geschmack ist dafür würziger, pikanter, entwickelt fast eine salzige Seite, Koriander und Anis zeigen sich mehr. Alle Kräuter sind dann aber noch besser verwoben, ineinander verschmolzen, es fällt einem viel schwerer, einzelne Noten herauszupicken; das Gesamtbild ist noch einheitlicher und runder, mit toller Struktur, die sich am Gaumen weiterhin ähnlich langsam entwickelt, aber in eine leicht andere Richtung; der Abgang ist nun eher von Eukalyptus getrieben, frischprickelnd, und im Nachhall entsteht sogar noch eine leicht florale Seite, die an Jasmin erinnert. Ja, man spürt und schmeckt den Unterschied, das Elixir d’Anvers Reserve ist ein eleganterer, strukturierter Likör, und betrachtet man das auf ein eh schon richtig gutes Basisprodukt oben drauf, wird klar: das Ausprobieren lohnt sich ganz sicher.
Kräuterliköre sind natürlich eine grundlegende Zutat der Cocktailwelt, da beißt die Maus keinen Faden ab. Das war schon immer so, und in modernen Zeiten ist das sogar noch mehr so, diese Kräuterliköre können sowohl selbstständig als tragende Zutaten genutzt werden, als auch als kleine gewürzähnliche Aromen in Spritzerform. Oder auch völlig gleichwertig, wie im Monte Cassino, der meiner Meinung nach mit dem Elixir d’Anvers sogar noch besser funktioniert als mit der gelben Chartreuse, die man ursprünglich hier eingesetzt hat.
Monte Cassino
¾oz / 23ml Rye Whiskey
¾oz / 23ml Elixir d’Anvers
¾oz / 23ml Bénédictine
¾oz / 23ml Zitronensaft
Auf Eis shaken.
[Rezept nach Damon Dyer]
Die achteckige Flasche hat in ganz Belgien einen hohen Wiedererkennungswert, in Antwerpen, wo der Likör herstammt, sowieso, da gehört die Marke wie schon gesagt zum hochprozentigen wie auch stadtbildnerischen Kulturerbe, und man schmückt sich auf dem Etikett ja sogar mit dem Stadtwappen. Wer sich für die Geschichte und die Herstellungsdetails des Elixir d’Anvers über das hinaus, was ich in der Einleitung schon erzählt hatte, interessiert, dem lege ich noch das wunderbar gestaltete Buch von Tanguy Ottomer ans Herz (ISBN 9789460583261). Der Antwerpenkenner hat alles gesammelt, was über diesen Likör zu berichten ist, und das ist eine ganze Menge in den 160 Jahren seiner Bestandsgeschichte. Stark bebildert, hervorragende Papier-, Reproduktions- und Bindungsqualität, zweisprachig in niederländisch und englisch, das ist was zum Schmökern und Schwelgen für Spirituosenfreunde wie auch für Leser, die einfach gerne diese wunderbaren alten Werbetafeln betrachten oder historische Fotos mögen. Zusammen mit einem Gläschen des Elixir d’Anvers kann man da einen sehr angenehmen Sonntagnachmittag verbringen!



Offenlegung: Ich danke Elixir d’Anvers für die kosten- und bedingungslose Zusendung der beiden Flaschen und des Buchs, und True Spirits für die Vermittlung.