Einige Spirituosen haben eine Gegenwart, aber keine Vergangenheit; und manche haben eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Es ist ein Glücksfall, wenn sich ein Produkt sowohl früher als auch heute halten kann. Es passiert in so einem Fall dann aber oft, dass sich trotz der beständigen Verfügbarkeit über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ein auf und ab in der Beliebtheit zeigt. Die schwierigen Zeiten zu überstehen, und in den Hochphasen nicht zu überdrehen, das ist die Kunst, die es zu meistern gilt.
Ein Beispiel dafür ist der Likör Maraschino. Dieses Jahr darf der italienische Likörhersteller Luxardo mit seiner weltbekannten Marke Luxardo Maraschino Originale ein 200-Jahre-Jubiläum feiern, etwas, das wahrhaft nicht viele Marken von sich sagen können. Der Kirschlikör, hergestellt aus zerstoßenen dalmatischen Marasca-Kirschen (inklusive dem Kern!), hat dabei noch die gesamte Geschichte der Cocktails mitgemacht – mal geliebt, mal verachtet, aber immer dabei. Für viele klassische Präprohibitionsrezepte ist er nicht wegzudenken, und zu Beginn der modernen Cocktailrevolution in den 2000ern hat er eine gewichtige Rolle gespielt. Dass es dabei dann auch Phasen gab, in denen er als überschwere, zu aromatisch prominente und anderes überdeckende Gimmickzutat gesehen wurde, nun, wie gesagt, das gehört in der zyklischen Welt unseren Vorlieben dazu. Schauen wir uns mal an, wie der moderne Trinker der 2020er Jahre diesen Likör mit der wechselhaften Geschichte wahrnimmt.
Wer bei Kirschlikör erstmal an die dunklen Varianten wie Cherry Heering oder Eckes Edelkirsch denkt, ist von der klaren Transparenz eines Maraschino-Likörs vielleicht überrascht. Natürlich ist jede Alkoholbasis, auf die ein Likör aufsetzt, erstmal klar, und entsprechend kommt bei zuerst genannten die dunkle Farbe dann aus Zusätzen, nicht aus den destillierten Kirschen selbst. Im Glas schwappt der Luxardo schwer hin und her, einen Film an der Glaswand hinterlassend, der in breiten, fast nicht voneinander abgrenzbaren Streifen abläuft.
Die Nase hat für mich etwas parfümartiges – da sind schwere Aromen aus dunklen Kirschen, Honig und reifen Pfirsichen und Birnen, aber auch sehr florale Komponenten, die an Rosenblätter und Jasmin erinnern. Ein betörender Eindruck, unterfüttert von Ideen von Thymian und Banane, insgesamt sehr voll, rund und vielschichtig. Schnuppert man länger und tiefer, kommt eine kleine Lacknote aus Ethanol dazu, doch auch diese bindet sich eher ein als zu stören. Ein Tipp voraus – das Glas nach der Verkostung nicht ausspülen, sondern leer stehen lassen und ein paar Stunden danach reinschnuppern. Wow! Das riecht wie ein ganzer Rosenbusch.
Ein Likör ist natürlich per Definition süß, und der Luxardo Originale macht hier keine Ausnahme. Die Süße dominiert, wirkt aber nicht übermäßig pappig. Im Verlauf entsteht sogar etwas Würze, die viel des Zuckers ausgleicht und ein harmonisches, rundes und, ja, sogar feines Mundgefühl erzeugt. Die Aromen, die man im Mund wahrnimmt, unterscheiden sich kaum von dem, was die Nase so schon wusste – dunkle Kirsche, weitere Steinfrucht, Honig und diese so attraktive Blumigkeit. Eine leichte marzipanige Bittermandelnussigkeit kommt dazu. Das ist was, woran man echt schön und lange lutschen kann, 32% Alkoholgehalt sorgen dazu für ein bisschen mehr Kraft als manch anderer Likör das aufweisen kann. Der Abgang ist mittellang, auch hier von den bereits beschriebenen Eindrücken definiert, mit milder Wärme, und den Gaumen belegender Süße. Der Mangel an Spannung zwischen Nase und Mund ist vielleicht der einzige Mangel, den ich ausmachen kann.
Der klassische Drink mit Maraschino ist wahrscheinlich der Last Word, unglaublich lecker; hier kann der Luxardo alles zeigen, was er kann und lässt den Cocktail glitzern, für manche ist dort der dunkle Kirschgeschmack aber zu präsent – wie oben in der Einleitung angesprochen. Er hat aber auch soviel Kraft, dass er sich auch in kleineren Portionen bemerkbar machen kann (was moderne Bartender in ihren neuen Kreationen bevorzugen) – und das selbst gegen Enzianlikör, Kräuterschnaps und Zitrone. Der Picotin beweist das.
Picotin
¾ oz Suze
¾ oz Aquavit
⅔ oz Zitronensaft
½ oz Quinquina
⅓ oz Maraschino
Auf Eis shaken.
[Rezept nach Florian Dubois]
Ein Problem, das ich oft in meiner Hausbar habe, ist, eine spezielle Spirituose schnell zu finden. Das ist beim Luxardo kein Thema – die hohe, sehr markante Flasche sticht heraus, nicht zuletzt auch wegen der aufwändigen Karton-/Papierumwickelung und des großen, mit Medaillen übersäten Etiketts. Dass der Markengründer selbst auf der Flasche „unterschreibt“ und damit die Echtheit zertifiziert, kennen wir ja von anderen Spirituosen, deren Beliebtheit viele Nachahmer auf den Markt gerufen hat (Southern Comfort, nur als ein Beispiel, hat das identische Konzept).
Maraschino ist selbst in einer kleinen Heimbar nicht ersetzbar (auch nicht durch die oben schon erwähnten dunklen Kirschliköre!), insbesondere nicht, wenn man sich für klassische Cocktailrezepturen interessiert. Natürlich muss es dabei nicht unbedingt die Marke Luxardo sein, es gibt heute so einige Alternativen. Bei mir persönlich punktet der Norditaliener halt zusätzlich mit der langen Tradition und der sehr opulenten Aufmachung – darum stehen bei mir zwar oft zwei oder drei Marken dieses Likörs parallel im Regal, aber der Stammplatz ist dauerhaft besetzt vom Original von 1821.