Alkoholische Getränke werden schon immer bei religiösen Zeremonien benutzt. Man muss nicht ins antike Griechenland (Libation mit ungemischtem Wein) oder ins shintoistische Japan (geweihter Sake) gehen, um das zu beobachten – der gute christliche Kirchgänger kennt die Transsubstantiation seit früher Kindheit, auch wenn man dann noch nicht vom Messwein kosten darf. Auch in Mexiko und den es bildenden präkolumbianischen Staatsgebilden war und ist Alkohol Teil vieler heiliger Akte. Ein Beispiel dafür ist Pox (ausgesprochen „Posch“), eine Spirituose gebrannt aus zu Piloncillo eingedampftem Zuckerrohrsaft, verschiedenen Maissorten und Weizen, das früher bei den Maya religiöse Funktion hatte. Im heutigen Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat Mexikos, wird es noch heute bei Festivals und Zeremonien eingesetzt, ist allerdings auch ein beliebter Freizeitdrink geworden.
Ein Exemplar dieser Spirituosenkategorie hat es nun zu mir ins Glas geschafft: Der Siglo Cero Pox. Die Basiszutaten für diese Marke kommen alle aus kleinen Betrieben in Chiapas selbst, werden dort in Bio-Qualität für den Hersteller produziert. Nach 10 bis 18 Tagen der Fermentation in Holzbottichen durch wilde Hefen wird doppelt in Kupferbrennblasen mit Holzbefeuerung destilliert. Aber was rede ich, wenn man den Prozess in einem sehr atmosphärischen Video des Herstellers selbst anschauen kann.
Ich finde Details des kulturellen, geografischen und historischen Hintergrunds einer Spirituose immer extrem spannend, lasse mich aber dabei nicht beeinflussen, was die Geschmacksbeurteilung angeht. Denn wenn ein heiliges Wasser nicht schmeckt, muss man es auch nicht verkaufen, egal, wie heilig es ist. Im Gegenteil, dann lässt man es lieber für Zeremonien im Schrank und vermarktet es nicht. Schauen wir also mal unter sehr neutralen Gesichtspunkten an, ob der Siglo Cero Pox auch bei Atheisten und Rationalisten eine Chance hat.
Der Mischbrand ist ungereift und hat entsprechend keine Farbe, keine Partikel oder andere Fehler sind sichtbar. Beim leichten Schwenken erkennt man eine gewisse Viskosität, die Flüssigkeit bewegt sich überraschend träge im Glas. Dreht man das Glas langsam, bleibt ein Film an der Wand, der sich langsam in dicke Beine aufteilt und dann abläuft. Ich weiß immer nicht, was mich erwartet, wenn ich die Nase an eine vollkommen neue Spirituosengattung halte. Hier mischen sich bekannte und unbekannte Eindrücke, da sind dunkle Beeren, Lavendel, reife Pfirsiche, Getreide, Gras, aber auch eine präsente Lacknote und Ethanolspitzen. Das zwickt etwas direkt nach dem Eingießen, mit etwas Offenstehzeit geht dies zurück, aber verschwindet nicht ganz. Tatsächlich fühle ich mich wie bei einer Mischung aus White Dog und Rum aus Madeira.
Im Mund kommt der Siglo Cero erstmal sehr weich, süß und bequem an. Ein sehr breites, volles Mundgefühl entsteht direkt, mit hauptsächlich diesen beerigen Aromen. Im Verlauf schleicht sich eine bitterschokoladige Würze ein, die sich immer weiter entwickelt, bis sie zur richtig pikanten, minzigen Schärfe wird und an der Zunge und Gaumen kitzelt; das ist nicht den 40,5% Alkoholgehalt (handschriftlich auf dem Etikett nachgetragen!) zuzuschreiben, sondern wahrscheinlich den Basiszutaten, die durchaus für solch ein kaltes Feuer in Spirituosen sorgen können. Getreidige Noten kommen dazu, verdrängen etwas die Frucht. Der Abgang schließlich ist eiskalt, pfeffrig, minzig, feinherb, den ganzen Geschmacksapparat ausfüllend, aromatisch lang und effektvoll.
Ich bin sehr angetan gerade von der Entwicklung, die der Siglo Cero im Mund macht – wie vom gesamten Brand an sich. Eine runde, spannende Sache, an der man sich lange abarbeiten kann, ohne dass es langweilig wird. Noch ein Beispiel dafür, dass nicht immer alles lange in einem Holzfass liegen muss, um komplex und rund zu sein.
Für seltene Spirituosen wie Pox ist die Auswahl an bereits vorhandenen Cocktailrezepten natürlich praktisch gleich null, da muss man improvisieren. Ich hatte diesen Pox da, ich hatte eine große Menge frisch handgepflückter Brombeeren da, und die beiden schrien lauthals nach Vermählung wegen der oben erwähnten beerigen Noten. Der Especial Day verlangt normalerweise nach un- oder nur leichtgereiftem Rum, doch ich glaube, der mexikanische Mischbrand ist hier ein mehr als würdiger Vertreter und gibt schöne, zusätzliche Würze und Komplexität in den Drink – und es zeigt, dass man für exotische Spirituosen nicht immer extremexotische Cocktailrezepte haben muss, sie funktionieren oft auch mit sehr europäischen Komponenten.
Especial Day
5 Brombeeren im Shaker muddeln
2 oz Pox
½ oz süßer Wermut
¾ oz Crème de Mure
½ oz Ananassaft
3 Spritzer Peychaud’s Bitters
Auf Eis shaken. Doppelt abseihen.
[Rezept adaptiert nach Tonin Kacaj]
Es ist immer ein Zeichen, wenn Besucher beim Betrachten meiner Heimbar direkt zu speziellen Flaschen greifen – der Siglo Cero ist so eine Flasche. Natürlich kennt kein Mensch diese Spirituose, aber die Aufmachung ist halt ein Blickfang, mit dem bunten Etikett mit indigenen geometrischen Formen und dem sehr attraktiven, in gleichen Farben gehaltenen Stoffstück am unteren Ende der Flasche. Die Schnur, die den Stopfen mit dem Flaschenhals verbindet, kommt natürlich noch dazu, so wirkt das ganze wie aus dem Regal einer kleinen Mezcaleria irgendwo im Nirgendwo.
Vielen wird es sicherlich sehr schwer fallen, rund 50€ für eine Flasche einer Spirituose auszugeben, die ungewöhnlich ist und für die man keine Vergleichswerte hat. Ich rede hier also wohl hauptsächlich mit den Lesern meines Blogs, die offen für Neues sind, die gerne mal etwas Verrücktes ausprobieren, die die kulturelle Komponente bei solchen Bränden zu schätzen wissen, und die vielleicht sogar kleine Hersteller unterstützen wollen, statt den üblichen Großkonzernverdächtigen das hartverdiente Geld in den Rachen zu werfen. Ich würde mich richtig glücklich schätzen, viele derartige Leser zu haben.
Offenlegung: Ich danke dem Importeur Dr. Sours, dem deutschen Vertrieb bei fifteenlions GmbH & Co KG sowie Tequila-Mezcal-Shop für die kosten- und bedingungslose Zusendung einer Flasche des Siglo Cero Pox.