Wir leben in einer Zeit, in der Adipositas, Diabetes, Zöliakie und Laktoseintoleranz zum Alltag gehören. Doch nicht nur die Betroffenen, auch gesunde Menschen wollen diesen Zivilisationskrankheiten aktiv entgegen wirken. Denn, das sieht man oft, in der Gesellschaft von heute, die hochverarbeitete, industrialisiert hergestellte und mit versteckten Zusatzstoffen versehene Lebensmittel in breiter Masse konsumiert, muss man sich gar nicht unbedingt besonders blöd verhalten, um in diese Fallen zu tappen und ruckzuck zum Betroffenen zu werden.
Cocktails und Longdrinks sind nun keine Lebensmittel, sondern Genussmittel, und fallen daher aus der Betrachtung vieler Diäten komplett heraus. Alkohol als hochkalorisches Nervengift, Zucker und Säfte, die in fast jedem Drink vorkommen, sind ebenfalls Streichkandidaten auf den Listen des Erlaubten. Was bleibt da übrig? Für mich als Genusstrinker ein unerträglicher Zustand ist, wenn Begleiter an einem Abend zerknirscht an einem Sprudelwasser schlürfen müssen, wenn sie eigentlich lieber auch einen aromatischen Cocktail hätten wie den, den ich vor ihrer Nase trinke. Dieser Artikel soll untersuchen, was als Alternative zu Geschmacksarmut zur Verfügung steht. Aufgeteilt habe ich das Ganze in drei Abschnitte, die den größten Feinden der Diät gewidmet sind. Wir schauen zunächst nach alkoholfreien Drinks, dann etwas ambitionierter nach guten zuckerfreien Cocktails, und versuchen uns am Ende auch in der Königsklasse, also einem sowohl zucker- als auch gleichzeitig alkoholfreien Rezepts.
Wir wollen uns dabei am Genuss orientieren, also nicht schlampig zusammengerührte Undefinierbarkeiten mischen, sondern etwas, das sowohl vom Optischen als auch aromatischen her ordentlichen, hochwertigen Cocktails ähnelt, so dass die Ergebnisse auch neben einem „echten“ Drink standhalten. Das Nachmischen eines klassischen Martini ohne Alkoholkomponente, hier Gin, ist eigentlich erstmal gedanklich ein aussichtloses Vorhaben, dennoch habe ich mich daran versucht – zur Zeit sind so einige Hersteller auf die Idee gekommen, aromatisiertes Wasser als Ginersatz anzubieten, und eines davon soll hier mal exemplarisch zum Einsatz kommen. Siegfried Wonderleaf ist also der Ersatz für den Gin, nun brauchen wir noch Wermut. Tatsächlich findet sich ein Wermut auf Basis von alkoholfreiem Wein: Blutul Bianco soll als süßer, alkoholfreier Begleiter her.
Man sieht, es wird ganz sicher kein Dry Martini, sondern geschmacklich eher ein an einen Perfect Martini angelehnter Drink; ich gehöre zu denen, die durchaus ein bisschen Wermut im Martini schmecken wollen, sonst kann ich ja auch gleich einfach Gin-on-the-Rocks bestellen. Es fehlt, wie bei allen alkoholfreien Drinks, etwas an dem Punch und der Tiefe, die kein Ersatzprodukt liefern kann – aber hat man sich damit abgefunden, ist das Ergebnis tatsächlich ein schöner, eleganter und leichter Aperitif mit Stil. Ich nenne ihn daher Easy Martini. Mit so einem Glas in der Hand muss sich kein Abstinenzler mehr schämen und verstecken, im Gegenteil. Spannend – durch die Kombination der Zutaten entsteht eine geradezu frappante Nelkennote, die in keinem der Einzelbestandteile so stark vorhanden ist. Sehr interessant!
Easy Martini
3 oz Siegfried Wonderleaf
½ oz Blutul Bianco
Auf Eis rühren, in eine gekühlte Cocktailschale mit Zitronenzeste abseihen.
[Rezept nach Helmut Barro]
Die Vorkühlung des Glases und der Zutaten ist bei alkoholfreien Drinks dieser Machart ganz besonders wichtig, denn die Kälte gibt etwas benötigte Kante dazu. Die Zutaten schlagen sich also gar nicht schlecht, und sind für den Diätetiker mit ihren Inhaltsstoffen und Nährwerten gewiss einen Blick wert; auch, wer unabhängig davon mal einen Blick über den Tellerrand riskieren will, kann sich diese Produkte mal zu Gemüte führen, ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch eigenständig, also nicht als Ersatz für etwas anderes, für die Mixologen unter uns interessant sein können.
Alkoholfrei ist ja nun durchaus verbreitet, praktisch jede Kneipe hat einige Drinks ohne Alkohol im Angebot, da muss man gar nicht weit schauen oder experimentieren, wenn auch die meisten geistlosen Drinks genau das sind – geistlos und unansehnlich. Das Aroma eines Cocktails muss irgendwo herkommen, und so muss ausgewichen werden – der allseits beliebte Ipanema beispielsweise ersetzt den Alkohol einfach durch noch mehr Zucker, als im Vorbild, der Caipirinha, eh schon drin ist. Filler wie Ginger Ale, Tonic Water, Säfte und Cola bieten durch ihren hohen Zuckergehalt den Ausgleich an Geschmack, den man durchs Weglassen des Schnapses herbeiführt. Doch man tauscht hier teuer ein: Für den an Kalorien Interessierten ist Zucker mindestens genauso schlimm wie Alkohol. Daher schauen wir mal, ob es nicht möglich ist, auf den süßen Geschmacksträger zu verzichten. Nicht nur auf aktiv beigefügten Zucker, sondern auch auf den Zucker, den Liköre, Säfte und andere Zutaten manchmal gar nicht zu knapp enthalten. Geht man ein Rezeptbuch diesbezüglich durch, wird man erstaunt sein, wie wenige Cocktails es ohne Liköre und Säfte in die Listen schaffen – man muss wirklich mühsam suchen, und in vielen Büchern wird man gar nicht fündig. Es ist viel schwieriger, einen zuckerfreien und dennoch aromatischen Drink zu mixen als einen alkoholfreien, das habe ich gelernt – wenn man nicht einfach den Zucker durch künstliche Süßstoffe ersetzen will, das ist natürlich einfach, aber nicht viel gesünder.
Einen habe ich gefunden, der eigentlich auf Erdbeerschnaps und dem dazu passenden Beatles-Song beruht. Leicht adaptiert für die bei mir in der Heimbar vorhandenen Zutaten wird daraus eine spannende Sache – je nach verwendetem Himbeerbrand wird der Raspberry Fields Forever zwischen sehr süßlich/aromatisch und trocken/herb. Ich verwende darin am liebsten einen serbischen Rakiya, der sich großartig macht und eher in die erste Kategorie fällt. Tatsächlich vermisst man so eine zugefügte Süße gar nicht – ein guter Brand bietet genug natürliche Süße. Wer ganz auf (Frucht-)Zucker verzichten will, muss natürlich der Versuchung widerstehen, die Dekoration zu essen.
Raspberry Fields Forever
2 oz Himbeergeist oder Himbeerrakiya
½ oz Cognac
Im Glas auf Eis bauen, aufgießen mit Sprudel.
[Rezept nach Helmut Barro]
Einen kurzen Einwurf ist hier vielleicht auch aktiv verheimlichter Zuckerzusatz, wie es bei vielen Rums geschieht, wert – will man ganz hart sein, muss man auch darauf achten. Man sieht allerdings, dass zuckerfrei automatisch bedeutet, dass der Drink entweder sehr stark wird, weil er eigentlich nur aus hochprozentigen Spirituosen besteht, oder zu einem Fizz wird, weil, wenn verdünnt wird, eigentlich nur Sprudelwasser als Filler zum Einsatz kommen kann. Es gibt auch kalorienreduzierte Filler, Tonic Water Light zum Beispiel, die, will man dann doch ein paar Kalorien zulassen, ganz passabel einsetzbar sind. Hervorheben möchte ich dabei zum Beispiel auch den pH Tonic Syrup, der richtig gut funktioniert, hochwertig ist und dabei sehr viel weniger Zucker mit sich bringt als die meisten industriellen Produkte. Sein Bruder, der pH Ginger Syrup, bietet ähnliches fürs reduzierte Genießen von Ginger Ale oder Ginger Beer, wenn man sich seinen Scotch mit etwas aufgießen will.
Zu guter Letzt kommt der Punkt, über den ich mir wirklich hart den Kopf zerbrochen habe. Besonders nach den oben erzählten Erfahrungen war ich mir sicher, dass es einfach nicht möglich ist – ein sowohl alkohol- als auch zuckerfreier (oder wenigstens -armer) Cocktail. Ich stelle mich der Herausforderung, auch wenn wir uns hier in schon äußerst seltsamen Sphären der Mixologie bewegen. Wir wollen hier natürlich dennoch stilsicher bleiben und nicht ins billig-amateurhafte abgleiten, darum orientieren wir uns auch hier an einem klassischen Rahmen. Ich habe neulich den Hitchcock-Film „Der unsichtbare Dritte“ geschaut, und da in diesem Film der Zug 20th Century Limited eine gewichtige Rolle spielt, kam mir die Inspiration, den ähnlich benamten Cocktail, der diesem Zug gewidmet ist, für diesen Artikel nachzubauen, nur eben mit stark reduziertem Zucker- und Alkoholanteil. Ich betone den extremen Experimentalcharakter des nachfolgenden Drinks! Den asketischen Bedürfnissen unseres Jahrhunderts zu Ehren nenne ich ihn dann entsprechend Twenty-First Century Cocktail.
Twenty-First Century Cocktail
2 oz Siegfried Wonderleaf
¾ oz Blutul Bianco
½ Teelöffel Hershey’s Sugar-free Chocolate Syrup
¾ oz Zitronensaft
Auf Eis shaken und mit Zitronenzeste garnieren.
[Rezept nach Helmut Barro]
Der aufmerksame Leser sieht, dass ich nicht komplett auf die Feinde verzichten konnte, denn den Fruchtzucker der Zitrone und den Zucker im Blutul muss man in Kauf nehmen. Immerhin habe ich neben den bereits zum Einsatz gekommenen Zutaten noch einen zuckerfreien Schokoladensirup entdeckt, der, sehr vorsichtig dosiert, die Crème de Cacao des Originals ersetzen soll. Das geht ganz nett, und das Ergebnis überrascht selbst mich – nachdem ich an den Verhältnissen gespielt habe, der erste Versuch war zugegebenermaßen desaströs; zuviel des Schokosirups, und selbst nur ein wenig zuviel, führt zu einem Drink, der ausschließlich nach verdünnter, gesüßter, gewürzter Trinkschokolade schmeckt, und außerdem optisch äußerst unansehnlich wird.
Wir sehen, mit Willen, Können und Ausdauer lässt sich selbst für den Abstinenzler und den Weight Watcher etwas ins Glas zaubern, was eventuell auftretende Cocktailgelüste einigermaßen befriedigen kann, und einem weder die Askese, eine zusätzliche Insulinzugabe oder Bauchschmerzen wegen Übelkeit noch den Verzicht auf Stil und Klasse aufdrängt. Und die Bikinifigur 2022 rückt darüberhinaus in greifbare Nähe!
Eine wichtige Anmerkung allerdings zum Schluss. Ich habe hier immer versucht, bestehende Rezepte nachzubauen, mit alternativen Zutaten. Letztlich ist es aber nicht das, was das Ziel sein sollte. Ähnlich wie Vegetarier leckere Gerichte kochen, die nicht Wurstimitate sind, muss vielleicht auch die Barwelt sich Gedanken machen, echte Alternativen, und nicht Imitate anzubieten: Also, Mixologen der Welt, seht in die Zukunft und erkennt, dass dies ein spannendes Feld für Euch und Eure Kreativität ist!
Ein Kommentar zu “Weight Watchers in der Bar – Zucker- und alkoholfreie Cocktails”
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