Wer kennt ihn nicht, den kleinen Absackergrappa, den es beim Italiener um die Ecke nach dem Essen aufs Haus gibt. Dies ist für die meisten Menschen der erste und meist auch einzige Kontakt mit Tresterbränden, dabei hat die Kategorie durchaus mehr zu bieten. In Griechenland schätzt man den Tsipouro als Alternative zum Ouzo, und auch in Frankreich werden die Überbleibsel der Weinproduktion, also Stengel, Schale, Kerne der ausgepressten Trauben und derartiges, noch zu etwas Hochprozentigem verarbeitet: dem Marc. Die Weinregion Burgund hat diesbezüglich natürlich besonders Geschichte und Potenzial, darum ist das (so der offizielle Name) Eau-de-vie de marc de Bourgogne auch eine EU-rechtsgeschützte Herkunftsbezeichnung.
Der Védrenne Marc de Bourgogne des Hospices de Beaune 2011 ist einer davon, der lange und komplizierte Name gehört irgendwie mit zum Programm – Védrenne ist der Abfüller, der bei der jährlich stattfindenden, karitativen Zwecken dienenden Benefiz-Weinversteigerung der Beauner Hospizen verschiedene Marcs aus höchstwertigen Pinot-Noir- und Chardonnay-Rebsorten erwirbt, mindestens 10 Jahre in den hauseigenen Kellern in Eichenfässern lagert, und diese dann in alten, großen Vats zu einem Jahrgangsblend verheiratet; die Saison 2011 habe ich mir ergattert und freue mich besonders, diese in Deutschland doch eher unbekannte Spirituosengattung anhand dieses Premiumexemplars vorstellen zu dürfen.
Orangenes Kupfer sieht man im Glas, es ist auch in der grünen Flasche schon erahnbar. Man braucht etwas Energie, um die Flüssigkeit dazu zu bringen, sich in Bewegung zu versetzen, und dann bleibt sie auch schnell wieder im Lot stehen. Beine bilden sich ebenso träge aus dem Film an der Glaswand, der dabei entsteht, und auch zum Ablaufen lassen diese sich dann nicht drängen.
Wer Grappa kennt, kennt auch diese typische Tresterbrandnase, erdig, würzig, grünholzig. Hier kommt der steinige Duft eines alten Kellers dazu, und länger offenstehende Fruchtreste, gerade aber noch davor, zu verrotten. Vanille und Zimt gesellen sich bei, leichte Erinnerungen an Bourbon, Karotte und noch feuchten, frisch aus der Frucht geschälten Aprikosenstein. Sehr erwachsen, sehr komplex, man kann hier in diverse unterschiedliche Richtungen explorieren, und es wird einem dabei nicht langweilig. Mit zunehmender Offenstehdauer verwaschen diese Eindrücke ineinander immer mehr und bilden dann ein sehr rundes, attraktives Bouquet.
Der erste Eindruck im Mund ist sehr klar und linear, da findet keine Aromenexpansion statt, sondern sogar eher eine Reduktion – als würden die gesamten gesammelten Ideen plötzlich konzentriert und in einen schmalen Faden gewoben. Das Mundgefühl bleibt sehr weich, wird aber trocken und direkt, geht zuerst ins Zitrussige über, mit sogar exotischen Anklängen von Ananas, Himbeere und Guave, um dann von warmen Gewürzen zurück zum reinen, erkennbaren Trester geführt zu werden. Dort verharren wir eine Weile, milde Ahornsirupwürzigkeit breitet sich aus, ohne dabei von der schmalen Form abzuweichen, mit grünholzigen und vegetal-blättrigen Noten, und etwas Kümmel. Der Abgang ist dann trocken und pikant, mit sehr angenehmer zimtiger Wärme im Rachen, und leichtem Kitzeln auf der Zunge, während milde Holz- und Karottennoten das ganze sehr lange ausklingen lassen. 45% Alkoholgehalt unterstützen das Ganze aufs Beste.
Der Védrenne ist schlicht ein wunderbarer Brand, deutlich weniger verspielt und schmeichelnd als ein italienischer Grappa, eher streng und sauber, aber ohne dabei unwirsch zu werden. Ausgesprochen vielschichtig und trotz der initialen mönchischen Askese am Ende aufblühend und voller Weltoffenheit. Ich liebe das.
Ich habe immer wieder Spirituosen hier, die den Schritt in die Cocktailwelt noch nicht so wirklich geschafft haben, oder ihn nicht vorhaben. Marc de Bourgogne ist so eine, die sogar hinter dem diesbezüglich auch nur unwesentlich weiter fortgeschrittenen Grappa noch zurückliegt. Der Le Portrait kann ohne Mühe beweisen, dass der, der spannende Geschmäcker auch in Mixed Drinks sucht, sich vielleicht mal an Tresterbrände wagen sollte. Wer nicht an die Zutat Ratafia de Bourgogne herankommt, kann stattdessen auch einen leichter zu beschaffenden Pineau de Charentes nutzen, oder auch im Zweifelsfall einen anderen Likörwein.
Le Portrait
3 weiße Trauben im Shaker muddeln
1½oz / 45ml gereifter Marc de Bourgogne
½oz / 15ml Ratafia de Bourgogne
⅔oz / 20ml Honigsirup
½oz / 15ml Zitronensaft
1 Prise Pfeffer
Auf Eis shaken. Doppelt abseihen. Mit Traubenspieß dekorieren.
[Rezept nach Joseph Akhavan]
Der Abfüller gönnt sich und uns eine opulente Verpackung: Zunächst fällt natürlich die Holzkiste auf, in der die Flasche geliefert wird, mit transparenter Plastikabdeckung und eingebranntem Markennamen; danach kommt das tolle, textlastige Etikett. Erneut ein altes Thema dagegen: Auf die Wachsabdeckung hätte ich ehrlich sehr gern verzichtet, vor allem, weil sie hier noch besonders benutzerunfreundlich gemacht ist. Auf dem Blechschraubverschluss ist kaum die Schnittkante erkennbar, an der man das Wachs durchtrennen muss, und wenn man es geschafft hat, ist das Wachs superbröckelig und krümelig. Ganz ehrlich – lieber ohne, der optische Effekt ist den Nachteil an Handhabbarkeit einfach nicht wert.


Dieser kleine Wermutstropfen am Schluss soll aber niemanden davon abhalten, einen Marc de Bourgogne grundsätzlich mal auszuprobieren, und gern insbesondere in dieser Ausprägung. Mir macht der Védrenne Marc de Bourgogne des Hospices de Beaune 2011 jedenfalls so richtig viel Spaß und gehört für mich sicher zu meinen unerwarteten Entdeckungen des Jahres 2022!