Geheimnisse des Amazonas – Muyu Chinotto Nero

Muyu Chinotto Nero Titel

Es ist ein Trend, der letztes Jahr begonnen hatte – sogenannte Low-ABV-Drinks begeistern den Trinker, der nicht immer Cocktails haben will, bei denen man nach höchstens zwei Iterationen schon unter dem Tisch liegt. Die Verwendung leichterer Zutaten ist dabei der Schlüssel, denn man will ja nur den Alkoholgehalt reduzieren, nicht durch schlichte Verdünnung die Aromatik gleich mitverwässern. In diesem Zuge haben Wermut, Quinquina, Sherry, Porto und leichte Liköre einen gewissen Aufschwung erfahren – sie eignen sich natürlich durch ihre niedrigprozentige und trotzdem hocharomatische Anlage ideal dafür, Low-ABV-Drinks herzustellen. Ich gebe zu, ich mag meine Cocktails lieber bombenstark, mit Overproof-Rums und BiB-Bourbon, darum finden sich auf meinem Blog verhältnismäßig wenig Rezepte, die dezenter daherkommen, aber manchmal braucht man ja nur einen Anlass, um auf den fahrenden Trendzug noch aufzuspringen.

Der Anlass bei mir ist Muyu Chinotto Nero, der mir vor ein paar Wochen ins Haus geflattert ist. 2019 haben die Cocktaillegenden Berg, Kratena und Caporale (der geneigte Cocktailnerd kennt die Namen) zusammen mit dem niederländischen Likörhersteller De Kuyper ein Trio von Likören designt. Der hier besprochene Vertreter, von Simone Caporale erdacht, scheint mir passgenau in diese Low-ABV-Schiene zu gleiten, und mit einem ungewöhnlichen Aromenprofil gleichzeitig denjenigen ansprechen, der sonst schon alles probiert hat, was das Backboard einer Bar normalerweise zu bieten hat. Die namensgebende Chinotto ist eine Art italienischer Bitterorange, darum herum werden Zutaten wie Curaçao-Orangen, Chinarinde, Eichenmoos („Pflaumenflechte“ ist wohl der hierzulande übliche botanische Name dafür) und Kakao gelegt – man ahnt also schon, dass das nicht einfach nur ein weiterer Orangenlikör in der eh schon gut gefüllten Spirituosenkategorie sein wird. Aber ich greife vor, öffnen wir die Flasche und probieren den Stoff erstmal pur, bevor wir uns für eine Konsumvariante entscheiden.

Muyu Chinotto Nero

Die Farbe jedenfalls gibt die grobe Stoßrichtung schon vor. Ein leuchtendes, kräftiges Orange, lange schon blühende Sonnenblumen, sehr hübsch. Woher sie kommt, kann ich nicht sagen, denn eine Fassreifung findet nicht statt – es ist also wohl Farbstoff, wenn nicht irgendwelche der Zutaten nach der Destillation der Einzelbestandteile noch zugefügt wurden. Jedenfalls passend! Beim Schwenken bewegt sich der Muyu gemächlich mit schönem Glaswandverhalten.

Die Nase ist direkt faszinierend; gewiss ist die Bitterorangenkomponente initial dominierend und leicht erkennbar, doch die Chinarinde springt direkt danach hervor und gibt dem Likör eine krautige Note. Unterschwellig ist unter der Bittersüße und Zitrusfruchtigkeit noch eine weitere, erdig-vegetale Schicht, ich würde das wirklich einem Moos oder Zedernholz zuschreiben. Und, zu guter Letzt, erkennt man ganz spät auch noch sanfte Kakaotöne. Ich muss wirklich sagen, dass das Etikett hier nicht lügt: Hier wurden wirklich linear-klare Aromen ausgewählt und zusammengefügt, auf eine Art und Weise, dass jede noch erriechbar ist, sie aber ein rundes Gesamtgeruchsbild ergeben. Da gibt es für mich nicht viel zu interpretieren, nur bewundernd mit dem Kopf zu nicken.

Muyu Chinotto Nero Glas

Ich wiederhole das immer wieder gern, meine Leser wissen es inzwischen: Ein Likör muss in der EU mindestens 100g/L Zucker aufweisen, und das schmeckt man im Antrunk des Chinotto Nero auch. Schnell wird diese Süße aber ausgeglichen, die Frische und Herbe der Bitterorangen wandelt das Mundgefühl, man hat eine schöne Säureattacke, die sich mit bitterer Kräuterigkeit bestens kombiniert. Im Verlauf beginnt der Likör auf der Zunge zu prickeln. Die Textur ist breit und voll, ohne einem Drang nach Pappigkeit nachzugeben. Blind wäre es schwer für mich, zu definieren, was ich da aromatisch eigentlich im Mund habe – ein Bitterlikör mit Wermut oder Quinquina vermischt? Das wäre meine Vermutung, wahrscheinlich. Gegen Ende kommt die Süße wieder stärker zum Vorschein, während der Muyu mit herbbitterem Frucht- und Mentholnachhall ausklingt und auf den Lippen etwas Orangenzucker hinterlässt.

Der Muyu Chinotto Nero ist sicher eine Art Strukturbrecher, er kombiniert mehrere bekannte Spirituosenkategorien in sich, hat vor allem die Würzigkeit, die viele Bitterorangenliköre wie Campari oder Aperol im Vergleich vermissen lassen. Dahingehend kann ich als bekennender Campari-Fan im Muyu sehr viel Spannendes finden; handwerklich ist das Produkt dazu über jeden Zweifel erhaben, gerade in der Nase erkennt man das sehr deutlich.

Um auf die Einleitung zurückzukommen: 24% Alkoholgehalt weist dieser Likör auf; das ist auch leider seine (einzige) Schwäche – aber nur, wenn man ihn in Mixed Drinks verwenden will, für den Purgenuss reicht das völlig aus, um Kraft und Volumen zu bieten. Man kann ihn darum eigentlich nicht vergleichbar wie andere Bitterorangenliköre, die oft mit 40% daherkommen, einsetzen, da geht er oft unter, da viele Rezepte auf hochprozentige Produkte ausgelegt sind. Simon Difford empfiehlt, ihn mit Wodka zu pimpen, wenn man den von Produktdesigner Caporale auf dem Rücketikett vorgeschlagenen Highball mit Chinotto Nero und Tonic Water mixt, irgendwie geht mir dabei dann aber die Idee des Likörs selbst verloren. Darum biete ich hier einen Cocktail an, in dem der Muyu Chinotto Nero so genutzt werden kann, wie er abgefüllt wurde: Im seltsam benamten Toffee Negroni. Kein Toffee, kein Negroni, aber was solls. Da habe ich dann auch kein Problem, den geforderten Aperol durch Chinotto Nero zu ersetzen – das Ergebnis: herb, bitter, nussig, unbequem, genau dadurch mein Geschmack.

Toffee Negroni Cocktail

Toffee Negroni
1 oz / 30ml leicht gereifter Rum
1 oz / 30ml Amontillado
1 oz / 30ml Aperol
Auf Eis rühren. Auf Eis servieren.

[Rezept nach Lynette Marrero]


Man muss die Flasche, in die der Likör abgefüllt ist, einfach mögen – mattiertes Schwarz, das sich haptisch toll anfühlt, ein leicht abstrahierter Amazonas-Dschungel auf dem strukturierten Etikett (auch hier kann man mit den Fingern mitfühlen), der Echtkorken auf dem mit einem weiten Rand ausgestattenen Flaschenhals. Irgendwie zurückhaltend und opulent zugleich; ein wirklich gelungenes Design. Wenn man zusammen auf Reisen in exotische Regionen wie das Amazonasgebiet geht, wie das Kratena, Berg und Caporale wohl taten, um sich für diese Likörreihe inspirieren zu lassen, sollte am Ende auch was Ansprechendes rauskommen, und das ist hier der Fall. Vielleicht haben sie auch aus Versehen ein paar der dort in rauhen Mengen vorkommenden bewusstseinserweiternden Pflanzen geschluckt, das könnte die selbst für meine Verhältnisse etwas exaltierte Beschreibung des Likörs auf dem Seitenetikett erklären. Ha, es ist mir gelungen, das Haar in der Suppe zu finden! Ich bitte ehrlich um Verzeihung, denn der Muyu Chinotto Nero ist ein wirklich tolles Produkt, das ich jedem Freund des gehobenen Genusses echt empfehlen kann, selbst (oder gerade!), wenn man zuhause nur pur gern ein feines Likörchen nippen will und überhaupt keine Cocktailambitionen hat.


Offenlegung: Ich danke Trinkabenteuer/jrgmyr für die kosten- und bedingungslose Zusendung einer Flasche dieses Likörs.

Veröffentlicht von schlimmerdurst

Hüte dich vor denen, die nur Wasser trinken und sich am nächsten Tag daran erinnern, was die anderen am Abend zuvor gesagt haben.

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