Wir sind es heutzutage gewohnt, unsere Spirituosen in genormten Flaschengrößen erwerben zu können. Das üblichste, dem wir normalerweise begegnen, ist die 700ml-Flasche (in den USA sind dagegen beispielsweise 750ml der Standard, God save America!), die es in allerlei Formen und Farben gibt. Moderne Craftspirituosen ziehen sich, um dem verkaufsschädigenden hohen Literpreis zu entkommen, oft auf die Halblitergröße zurück. In die andere Richtung geht es mit vielen Champagnern – da ist die Magnumflasche besonders bei Feiern beliebt, man kann ja so schön damit protzen. Hin und wieder findet man noch die 1-Liter-Größe, besonders bei Barbedarf. Die 375ml-Flasche ist wiederum meines Erachtens bei verderblicher Ware wie Sherry, Wermut oder Port zu bevorzugen.
Ganz besonders entgegenkommend finde ich persönlich aber die 200ml-Verkaufseinheit, da bekommt man für vergleichsweise kleinen Preis eine Menge, die sich für erste Verkostungsversuche schon respektabel schlägt. Besser jedenfalls, als die 50ml-Miniaturen, wo man nach zwei Schlucken schon ein leeres Glas vor sich hat. In französischen Supermärkten bietet Comptoir des Flasks diverse Produkte in dieser 200ml-Größe als kleine, flache Hosentaschenflaschen an. Ich konnte natürlich nicht an diesen kleinen Fläschchen vorbeilaufen und habe mir eine Flasche des Armagnac Saint-Vivant in den Warenkorb gelegt. Meine Erwartung war nicht extrem hoch, wie bei allen Spirituosenprodukten, die so ostentativ an Kassen ausgelegt werden (in Deutschland kennt man das ja auch), aber manchmal wird man auch überrascht. Ist das hier der Fall?
Zur Optik – ein toller, kräftiger Orangenton mit goldenen Reflexen. Farbstoffe sind beim Armagnac wie bei seinem bekannteren Bruder Cognac erlaubt, und in der Regel gilt ja: Was erlaubt ist, wird gemacht, und wenn doch nicht, wird es extra betont. Daher gehe ich von Färbung aus, insbesondere, weil wir hier ja eher ein Mengenprodukt vor uns (Saint-Vivant ist der zweitgrößte Armagnac-Hersteller) haben. Dünnflüssig ist er, nur leicht viskos.
Der Armagnac Saint-Vivant riecht zunächst leicht, fruchtig, hell. Danach kommt aber schnell eine gewisse, leicht stechende Ethanolnote, die tiefere Aromen überdeckt. Weinbrandübliche Gerüche, nach Rosinen und Pflaumen, dazu etwas Vanille. Gar nicht unangenehm, aber auch nicht wirklich überwältigend.
Im Mund liegt der Traubenbrand zunächst ähnlich unaufgeregt und zwar schön weich, aber auch etwas flach und schal wirkend. Nach kurzer Zeit kommt das Highlight der Verkostung – ein wirklich schöner, zarter, blumiger Veilchen- und Rosengeschmack, der allerdings schnell wieder verklingt und einer generischen, dann auch schon recht wässrigen Weinbrandsensorik Platz macht. Ich kenne Spirituosen mit 40% Alkohol, die da mehr Spannung abliefern.
Der Abgang ist kurz, süß und nur wenig trocken. Hier entsteht nun etwas Ingwerwürze, die Aromatik lebt nochmal kurz fruchtig auf mit Pflaumen, Orangen und Trauben, und dann verhallt der Saint-Vivant mit einer milden Wärme, einer milden Vanillenote und leichter Anästhesierung auf der Zungenspitze.
Tatsächlich mag mich dieser Armagnac als Purgenuss nur mäßig überzeugen; ich kann mir aber gut vorstellen, dass er hauptsächlich als kleiner Schuss in einem Kaffee gute Dienste leisten kann. Entsprechend biete ich hier eine Luxus-Variante eines Kaffees-mit-Schuss an: The Beccaccino kombiniert die paar Vorteile des Saint-Vivant noch mit süßer Likörgewalt. Wer will, kann sich diesen Cocktail natürlich auch warm zubereiten, um die langweilige Stunde zwischen 2 und 3 am Sonntagmittag etwas erträglicher zu gestalten.
The Beccaccino
1 oz Brandy (z.B. Armagnac Saint-Vivant)
½ oz Bénédictine
½ oz Amaretto
½ oz Whisky-Likör (z.B. Boxing Hares Spirit Drink)
2½ oz Abgekühlter, starker Kaffee
Auf Eis shaken.
[Rezept adaptiert nach Murray Stenson]
Bei dieser Ausprägung des Armagnac Saint-Vivant haben wir einen Blend ohne Altersangabe aus Ernten des Bas-Armagnac und Ténarèze vor uns. Derselbe Hersteller produziert aber auch Armagnac in den üblichen Alterskategorien VS, VSOP und XO – ich glaube, man müsste sich mindestens den VSOP holen, um in Bereiche zu kommen, die für Genießer interessant werden. In der kleinen Flasche jedenfalls findet man einen netten Drink für Zwischendurch oder für den „Notfall“, den man kostengünstig in kleiner Menge erwerben kann; mehr als eine Kochzutat ist er in dieser Form aber leider kaum.