Zum Genuss einer Spirituose gehört das Gesamtpaket, und damit meine ich natürlich primär den Inhalt, aber auch die Verpackung, das Design, die Haptik und auch die auditive Komponente. Was gibt es Schöneres in der Spirituosenwelt als das Klicken von Eiswürfeln, die in einem Glas eines Cocktails treiben? Oder das Geräusch, das ein Korken macht, wenn man ihn von einer guten Flasche Single Malt oder Rum zieht?
Nach dem „Popp!“ des Korken der Flasche des Pyrat XO Reserve Rum springt einem auf jedenfall neben der Gänsehaut des Geräuschs auch ein sehr angenehmes Rum-Aroma in die Nase. Das ist schon sehr vielversprechend und lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Leider bleibt von dieser Nase nicht viel im Glas: Das allesüberwältigende Orangen- und Zitrusaroma des Pyrat XO trumpft alles.
Gleichzeitig hat der Pyrat überraschend wenig Körper, da war ich schon mehr als ein bisschen enttäuscht. Im Vergleich zu anderen Rums ist er fast dünn und hat kein Volumen. Das merkt man dann auch am Gaumen – deutlichst spür- und schmeckbare Alkoholnoten, als wäre er grade frisch aus der Destille gelaufen und nur wenig gereift (bis zu 15 Jahre steht im Beipackzettel – wahrscheinlich liegt die Betonung ganz stark auf dem „bis zu“, der Löwenanteil wird eher maximal 2 Jahre alt sein). Für diesen Rum werden ca. 24g/l Zucker undeklariert beigemischt, also 9g pro kleinem Fläschchen.
Man hört darüber hinaus Gerüchte über den Einsatz von ehemaligen Orangenlikörfässern zur Reifung, was mich bei dem Geschmack nicht wundern würde; auch nicht, wenn herauskäme, dass statt solchen unkonventionellen, aber wahrscheinlich erlaubten Fässern nur zum Finish auch direkt einfach ein (dann schon die Schwelle zur Manipulation überschreitender) guter Schuss Orangenlikör zugesetzt würde, was auch den Zucker miterklären könnte.
Dennoch kann ich diesen Rum Genießern empfehlen, die gern zitruslastige Spirituosen mögen, und als Dessertrum oder Digestif mag er auch ganz gute Dienste leisten. Als „Sipper“ – na, ich weiß nicht, für mich ist er dazu zu frech und unausgereift, zu eindimensional. Ich kann ihn mit aber sehr gut als Ersatz für den Cointreau in einem Cointreauversial vorstellen. Da der Pyrat XO trotz all des Zuckers, den man beim Purtrinken schmeckt, doch noch weniger süß als ein Orangenlikör ist, sollte man, je nach Säuregrad des verwendeten Cranberrysafts, nach Laune vielleicht etwas Zuckersirup zugeben.
Pyratroversial
2 oz Pyrat XO
¾ oz Cranberrysaft
½ oz Zitronensaft
[Rezept nach schlimmerdurst.net]
Im Nachhinein bin ich froh, nur diese kleine, halbe Flasche mit 375ml gekauft zu haben, und eine Nachbestellung wirds, egal in welcher Größe, ganz sicherlich nicht geben – da hole ich mir dann lieber einen Clément Créole Shrubb, bei dem alles noch zitrusintensiver und vollmundiger ist, aber ohne das Kratzen, oder halt direkt einen echten Orangenlikör wie Grand Marnier Cordon Rouge, der nicht so tut, als wäre er ein Rum.
Die Flasche selbst hat aber schon was – gedrungen, mit Einsprengseln im Glas, einem echten Korken und schönen gelben Band (fast identisch also zur großen Flasche). Ein schönes Geschenk, als Mitbringsel mit Überraschungseffekt für den Gelegenheits-Likörnipper. Aber bitte nicht für echte Rumkenner – bei denen kriegt man als Gegenleistung für diesen seltsamen Halbrum höchstens ein müdes Lächeln.