Raicilla, die „kleine Wurzel“, darf man in Deutschland durchaus als obskure Spirituose bezeichnen. Eigentlich nur der, der sich schon etwas ausgedehnter mit mexikanischen Agavenbränden auseinandergesetzt hat, kennt ihn hierzulande, probiert haben ihn tatsächlich wahrscheinlich noch weniger. Raicilla ist eine der vielen Herkunftsbezeichnungen, mit denen Mexiko seine traditionellen Produkte schützt, auf einer Stufe mit Tequila, Mezcal, Bacanora, Sotol und Charanda bei den Spirituosen, aber auch Habaneros, Kaffee und Kakao aus bestimmten Regionen bei Genussmitteln. Zwei Stile gibt es – Raicilla de la Costa, und Raicilla de la Sierra, im Namen sagen sie schon, dass sie in unterschiedlichen Gebieten hergestellt werden, ersterer in den wärmeren, feuchteren Regionen an der Pazifikküste, letzterer in den trockenen, hochgelegenen Bergen der Sierra Madre, und sie unterscheiden sich wegen dieser dramatisch verschiedenen Klimazonen, unterschiedlicher verwendeter Agavenspezies und Herstellungsmethoden doch recht deutlich in der Sensorik. Die Hersteller eines solchen Raicilla de la Sierra habe ich während meines Mexiko-Aufenthalts 2025 für Spirits Selection by CMB besucht, und natürlich eine Flasche davon mit nach Hause gebracht.
Um die Taberna Tres Gallos zu finden, fährt man in Jalisco von Guadalajara 150km westwärts in Richtung Mascota die schmale, sehr holprige und sich windende Ruta 70 hoch in die Sierra Madre Occidental, muss ein paar Berge überqueren, an denen sich Nebel sammelt. Am Rande des Nirgendwo auf 1400m Höhe findet man dann die Hacienda de Ahuacatepec, die dort seit 360 Jahren steht, und auf deren Gelände die Taberna Tres Gallos – „Taberna“ ist der Name für eine Brennerei in dieser Region Mexikos. Der Löwenanteil des dort, wie auch anderswo, hergestellten Raicilla ist ungereift, darum fand ich den Taberna 3 Gallos Asil Añejo Raicilla de la Sierra besonders spannend: er wird nach der Destillation für die für die Altersangabe „añejo“ nötige Mindestdauer von 1 bis 3 Jahren in Fässer aus amerikanischer Weißeiche gelegt. Die Marke Asil ist für Raicilla die erste, die den vollständigen Holzreifungsprozess mit eigenen Destillaten versucht hat, schon vor der Festlegung der DO für Raicilla im Jahr 2019; man hat also durchaus Erfahrung damit gesammelt. Meine Flasche stammt aus Fass #19, hat die handeingetragene Flaschennummer 1709. Die Agave Maximiliana dafür stammt vom Feld mit dem Namen „Salitre“, sie wurde im Jahr 2021 nach 7 Jahren Wachstum geerntet. Der Alkoholgehalt beträgt 45%, ist damit im mittleren Bereich der erlaubten Werte. Natürlich stelle ich nach den Tasting Notes auch den Produktionsprozess und die Pflanze, auf der der Raicilla beruht, vor. Jetzt aber erstmal ans Glas!
Man ahnt es schon von der Flasche her, aber im Glas wird es richtig deutlich – die Farbe ist ungewöhnlich. Es ist eine Art grünbraun, der grüne Einschlag ist dabei noch stärker als der braune. Selten hat man eine Spirituose, die nicht künstlich gefärbt ist, in diesem Ton vor sich. Die Viskosität ist ansprechend, es entstehen dickköpfige Beine an der Glaswand, dennoch wirkt der Raicilla beim Schwenken lebendig.
Nicht, dass es in der Nase wirklich weniger ungewöhnlich weitergehen würde. Man erschnuppert eine erstmal eine kräftige Note der gekochten Agave, sowohl süßlich und leicht karamellig, als auch vegetabil grün, sehr pflanzlich, mit einer Erinnerung an einen Tequila. Vanille und Cremepudding bilden einen Unterbau darunter, sie stammen sicherlich aus der Fassreifung, sind in angenehmen Maße vorhanden und erdrücken die Agave nicht. Bis hierher mag man denken, ja, das klingt bekannt, vielleicht ein Reposado – doch da täuscht man sich, eine sehr laktische Note ist im zweiten Ansatz des Asil Añejo erkennbar, eine Art cremiger Joghurt, verbunden mit einem durchaus säuerlich-herben Touch, der an Balsamico-Essig erinnert. Spannend ist, dass diese laktische Seite nicht beständig da ist, sie wabert immer wieder auf, taucht dann ab, kommt wieder hervor. Ein Hauch von Erdbeere schwingt dabei auch mit. Etwas, auf das man sich einlassen kann und vielleicht auch muss.
Am Gaumen spielt sich diese ungewöhnliche, variable Art ganz genauso ab. Vom süßlich-pflanzlichen Antrunk an bildet sich die runde, erwachsene Textur sowohl in Breite als auch Tiefe ab, ohne wirklich je Schwere oder Cremigkeit aufzubauen, das legt sich trotzdem weich an die Schleimhäute. Im Verlauf trocknet der Asil Añejo deutlich aus, wird herber, frischer, klarer, und auch durchaus pikant – man findet aber dennoch keine unangenehme Astringenz oder störende Hitze. Die laktischen Aspekte sind zu Beginn stärker da, verlieren sich im Verlauf, werden durch tannische Bittere, pflanzliche Herbe und gewürziges Prickeln ersetzt, und dann nimmt auch die Agave erkennbar immer mehr Fahrt auf und drängelt sich in den Vordergrund. Der Abgang ist wunderbar sanft, aber weiterhin nicht gelangweilt, und im Nachhall kombinieren sich Agave, Vanille, Cremejoghurt und ein paar schokoladige Noten einem sehr komplexen, ausdauernd anhaltenden Endbild, das wirklich ausgesprochen schön wirkt.
Besonders hebe ich hervor, dass die ursprüngliche Typizität eines Raicilla nicht durch die Fassreifung zerstört wurde, man beweist hier, dass ein bisschen Holzeinfluss dem Destillat gar nicht schadet. Der Asil Añejo ist ein gelungener Versuch, die Spannbreite von Raicilla zu erweitern, und sich dennoch nicht wirklich vom Ursprung zu entfernen. Ein komplexes Ergebnis, mit viel Spannung in der Sensorik, und ein wunderbares Spielfeld für alle Spirituosenfreunde, die sich offen für besondere Eindrücke zeigen.
Sucht man im Internet nach „raicilla cocktail“, um sich Inspiration zu holen, ist der erste Treffer direkt der Murder by Numbers. Man mag mir jetzt Oberflächlichkeit vorwerfen, wenn ich den hier als Beispiel zitiere, denn es gibt doch eine überraschend erkleckliche Anzahl an Rezepten, die Raicilla als Basisspirituose heranziehen (man sieht, ich habe nach dem ersten Treffer noch weiterrecherchiert). Ich nehme den hier einfach, weil er sich bei meinen Versuchen als wirklich ausgesprochen schmackhafter Drink herausgestellt hat, und man ja irgendwo anfangen muss. Also ist die Rezeptempfehlung nicht wirklich inspiriert, aber ehrlich! Ich bringe noch zwei aus Mexiko mitgebrachte Details an, einen halben Rand aus Skorpionsalz, und zwei bunte Totopos, Chips aus Maismehl.
Murder by Numbers
1¼oz / 37ml Raicilla
¾oz / 23ml Granatapfelsaft
¾oz / 23ml Zitronen-/Limettensaftmix
½oz / 15ml Kaffeelikör
¼oz / 7ml Granatapfellikör
1 Tropfen Angostura Bitters
Auf Eis shaken.
[Rezept nach Noah Small]
Die Wachsschicht um den Flaschenkopf ist etwas, worauf ich sehr gerne verzichten würde; hier ist es zumindest benutzerfreundlich so gestaltet, dass ein schwarzes Klebeband die Flaschenlippe schützt und so, wenn man es abzieht, keine Wachskrümel in die Flasche fallen. Ansonsten ist die Flasche sehr schwer, das quadratische Format macht was her, die Etiketten sind stilsicher gestaltet, aber dennoch passend zum rustikalen Inhalt, vor allem, sie enthalten handfeste Informationen über Herstellung und Hintergrund des Brands.
Wie Raicilla hergestellt wird, will ich gar nicht theoretisch erläutern, denn ein paar Bilder sprechen eben immer mehr als tausend Worte. Der Besuch der Taberna 3 Gallos war wieder mal ein besonderes Erlebnis, es ist immer wieder begeisternd, tatsächlich selbst zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken, dadurch entwickelt sich eine besondere Beziehung zu einer Spirituose, und Fausto Romero zeigte uns alles im Detail. Der Steinofen, „horno“, dient dazu, die Agavenherzen zu kochen, dadurch karamellisieren die Zucker und bilden den „aguamiel“. Die Agave wird dadurch ganz braun und schmeckt sehr süß, dabei auch würzig, erinnert an Honig. Man sieht in der gekochten Agave noch die Fasern der Pflanze. Aus diesen Stücken wird mit einer Presse der Saft ausgepresst und anschließend in Edelstahltanks fermentiert, mit wilden Hefen der Umgebung – sehr unterhaltsam ist die Tatsache, dass bei Laboruntersuchungen auch die Laktobazillen der nahegelegenen Käsemanufaktur gefunden wurden, die zum einmaligen Charakter dieses Raicillas beitragen. Nach dem doppelten Brennen in einer Edelstahl-Brennanlage ruht der Brand etwas und wird dann entweder in Flaschen abgefüllt oder in Fässer aus Eiche eingelagert, geschätzt zwei Dutzend davon liegen im Reifekeller der Taberna, und eine Flasche daraus habe ich oben ja eben vorgestellt.





















Natürlich muss ich auch die Pflanze zeigen, die die Basis für dies alles ist. Zum Löwenanteil wird Raicilla de la Sierra aus der Agave Maximiliana gemacht, andere Agavenspezies wie Inaequidens, Valenciana und Angustifolia sind in Verwendung, aber deutlich seltener. Die Fotos zeigen zu Beginn die ausgewachsene, erntebereite Pflanze, sie benötigt mindestens 7 Jahre, um in diesen Zustand zu kommen. Die Stacheln sind scharf und gefährlich, es braucht einen erfahrenen Jimador, um so eine wehrhafte Agave zu verarbeiten. Die Blätter werden abgetrennt und nicht für den Raicilla verwendet, ihre Innenstruktur weist aber auch erkennbar Fasern auf, aus denen früher manchmal Stoffe gewonnen wurden. Die Agave Maximiliana pflanzt sich über Samen fort, ist diesbezüglich anders als andere Agavenspezies; sie sind in diesem kontrastreichen schwarzweiß gehalten und wachsen an dem „Quijote“ genannten Stengel, der nur einmal im Leben einer Agave wächst und mehrere Meter hoch werden kann. Aus den Samen wird in langdauernder Arbeit über ein Jahr eine kleine Pflanze gezüchtet, und diese wird sorgsam auf die Felder verbracht und wächst dort über mindestens 7 Jahre. Wie bei Tequila und Mezcal wird nur die Piña, das Herzstück, fürs Destillieren verwendet, es ist viele Kilogramm schwer und weist auch ohne Blätter viele winzige, haarähnliche Stacheln auf, die Brennen auf der Haut verursachen. Auf dem Feld der Taberna wächst die Maximiliana nicht wie die blaue Weberagave in Tequila in Reih und Glied, sondern eher in einer bunten Mischpflanzung, an Hängen, auf Ebenen, mit Steinen, Sträuchern und Bäumen zusammen, eine Kulturlandschaft, die sehr ansprechend ist.















Die Taberna Tres Gallos ist der größte Produzent von Raicilla de la Sierra überhaupt, und man sieht schon, dass alles (bis auf die Anbaufläche der Agave selbst, natürlich) auf einem sehr kleinen Areal stattfindet, die Produktionsmittel sehr überschaubar sind. Daraus lässt sich ableiten, dass die meisten anderen Brenner mit noch sehr viel rudimentäreren und eingeschränkteren Mitteln arbeiten; einer der Racillieros, mit dem ich dort sprechen konnte, macht nur 5000 Liter im Jahr. Man hat den Eindruck, dass alle Brenner dort durchaus Interesse an Expansion und Export ins Ausland haben; das Produkt ist erklärungsbedürftig und nicht einfach, und so eine Idee kann nur funktionieren, wenn die Agavennerds zusammenarbeiten und das Wissen über so traditionelle Destillate verbreiten. Einerseits wünsche ich den Raicilleros den ökonomischen Erfolg, andererseits hoffe ich für sie, dass sie sich dabei selbst und ihrem Raicilla gegenüber treu bleiben können und ihn nicht so kommerzialisieren, wie das Tequila getan hat. Im Moment haben derartige Brände eine Chance auf dem Weltmarkt, auch wenn diese Chance sich natürlich in einer winzigen Nische abspielt – vielleicht habe ich mit diesem Artikel ein paar Leute geködert, mit in eine besonderen Welt abzutauchen, die noch Handwerk, Tradition und eine gewisse Mystizität am Leben erhält, statt nur reine Konsumprodukte herzustellen.


