Bei Spirits Selection by CMB erlebt man immer etwas außerhalb der Verkostungsarbeit. Man besucht Brennereien und Sehenswürdigkeiten der Region, in der der Wettbewerb gerade stattfindet, und manchmal sind es auch ungewöhnliche Dinge: 2024 besichtigten wir in Zunyi die Essigmanufaktur von Zeng Quanlin, die inzwischen zum nationalen Kulturerbe Chinas gehört. Seit 121 Jahren macht die Familie Zeng über nun 5 Generationen den berühmten Traditionellen Chishui-Sonnenessig. Er wird aus Weizenkleie, Weizen, Reis und Klebreis hergestellt, die mit einem speziellen Qu (wie in der Baijiu-Herstellung!) fermentiert werden. Dann, daher kommt der Name, wird der Essig für mindestens 3 Jahre in Tonkrügen in der prallen Sonne stehend gelagert, wobei er dabei ganz natürlich und ohne sonstige Eingriffe einkocht, konzentriert und sämig wird. Der Prozess besteht aus 12 Stufen und ist extrem aufwändig: Die Getreide werden erst gedämpft, ein Brauprozess findet dann statt, mit der Qu-Fermentierung und der Beigabe von über 100 chinesischen Medizinkräutern. 5000 Tonnen dieses Essigs in unterschiedlichen Alterungs- und Qualitätsstufen stellen die Zengs pro Jahr her, da fällt einem die Bezeichnung „Manufaktur“ schon schwer, doch der Großteil des Prozesses ist eben die namensgebende Lagerung, und maschinell passiert da in kaum einem Schritt etwas, da wird tatsächlich hart von Hand gearbeitet. In der brüllenden Hitze des ausgehenden Sommers in Guizhou mit an diesem Tag 38°C konnten wir dem Essig gut nachfühlen, wie es sich für ihn in einem Tontopf anfühlt, langsam ausgetrocknet zu werden – Bilder folgen am Ende des Artikels. Das Ergebnis der (für diese Variante 4 Jahre) Wartezeit? Probieren wir es.
Der Essig ist tiefmokkabraun, völlig blickdicht auch bei Gegenlicht und hinterlässt beim sanften Drehen an der Glaswand einen rostbraunen, ausdauernd haftend bleibenden Ölfilm. Die Viskosität ist hoch, aber nicht sirupartig.
Für die Nase ist Herr Zengs Sonnenessig spannend – man spürt die Säure, sie piekst aber nicht in der Nase. Schwere, dunkle Essigtöne dominieren, mit erkennbarer Würze, ordentlich Liebstöckel, etwas Koriander, Teriyaki-Sauce, ein Hauch von Katsuoboshi. Weiter unten findet man esterige Trockenfrucht, getrocknete Pflaume, fette Melasse, ein Anflug von ganz milder Frische. Im Gegensatz zum neulich erst von mir besprochenen Black Mirin, dem der Sonnenessig naturgemäß schon etwas ähnelt, wirkt das weniger exotisch und ist näher dem, was wir Westler unter einem dunklen Balsamico-Essig verstehen, wenn auch weiterhin würziger.
Im Mund ähnelt der Chishui-Sonnenessig dann aber weder dem italienischen noch dem japanischen Verwandten – die Säure ist sehr ausgeprägt, nur leichte, dann recht malzige Süße unterschmeichelt das ganze. Klar ein Essig, ohne Frage! Sehr angenehm legt sich, während man etwas mit der limettig-harschen Säure ringt, diese Fermentationswürze voller Eindrücke von Soja- und Teriyaki-Sauce, unscharfer Hoisin und Katsuoboshi, an Gaumen und Zunge. Schön ist die wirklich milde, dabei hocheffektive Salzigkeit. Und die starke Umami-Komponente schließlich rundet das Mundgefühl, das durch die ölige Textur voll gemacht wird. Der Abgang ist aromatisch mittellang, kleine Salz- und Umamiinseln bleiben auf den Lippen haften und liefern noch etwas Aroma nach. Die Säure ist bis zum Schluss stark und wirkt noch etwas im Rachen, aber ohne dabei zu kratzen.
Es ist für mich kein Wunder, dass manche so einen Essig auch pur trinken, in China natürlich, wie bei so vielem, aus Gesundheitsgründen. Letztere sind sicher eher da als bei Baijiu, wo uns die Lebensverlängerung und Organheilung beim Genuss auch dauernd verkauft werden wollte, doch man kann sich manchmal auch schlicht erlauben, das zu genießen, weil es schmeckt.
Die Hauptverwendung für dunklen Essig dieser Art ist selbstverständlich in der Küche, da erzähle ich hier nichts wahnsinnig überraschendes. Kann man mit soetwas aber auch in der Mixologie etwas anfangen? Aber gewiss. Meistens verwendet man, braucht man Säure im Drink, Zitrusfruchtsaft. Eine Weile sehr „in“ war Verjus, das findet man heute wieder seltener. Die Säure von Herrn Zengs Sonnenessig ist effektiv und dabei fein abgestimmt, dazu sehr aromatisch – sie macht sich hervorragend zusammen mit Erdbeeren, zu beobachten im Strawberry on Acid.
Strawberry on Acid
3 reife Erdbeeren muddeln
1½oz / 45ml Wodka
¾oz / 23ml Erdbeerlikör
1/6oz / 5ml Balsamico-Essig
1 Prise frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
Auf Eis shaken, doppelt abseihen.
Aufgießen mit 2½oz / 75ml Champagner.
Mit einer in Essig getauchten Erdbeere dekorieren.
[Rezept nach Simon Difford]
Zwei Flaschen in einer sehr attraktiven Außenverpackung mit Karton, dazu der oben mit Schnur auf die Flasche gebundene Papierteil – optisch hat mich dieser Essig in dem der Manufaktur angeschlossenen Shop sofort begeistert. 98¥ habe ich dafür bezahlt, das waren rund 13€ umgerechnet, ein echtes Schnäppchen, das sowohl als kulinarische Delikatesse als auch als Souvenir funktioniert.
Der Schaugarten, den die Firma 2019 eröffnet hat, ist extrem spannend und dabei auch richtig schön zu besichtigen. Seit der Eröffnung hat man mehr als 100000 Besucher gezählt, und das in einer eher abgelegenen Region Chinas. Der allergrößte Anteil dabei ist natürlich Inlandstourismus, ich denke, als wir von Spirits Selection by CMB mit 100 Personen aus aller Welt dort aufkreuzten, haben wir den Ausländeranteil dramatisch explodieren lassen.
















Der Besuch in der Sonnenessig-Manufaktur war für mich ganz sicher eines der größten Highlights einer Reise, die nun wirklich nicht an Highlights sparte. Ich liebe solche Besuche, sie erweitern den Horizont und zeigen Dinge auf, auf die man selbst nie gekommen wäre. Auf jeden Fall gilt: wenn meine Leserschaft mal nach Chishui kommen sollte, ist es schlicht Pflicht, sich die Essigproduktion dort anzuschauen. Ein Erlebnis für alle Sinne, das man nicht vergessen wird.


