Es gibt ja diese Einordnung im Berufsleben, ob man eher ein Generalist oder ein Spezialist ist. Sowohl für meinen Beruf als auch für mein Hobby habe ich herausgefunden, dass ich mich eher für eine breite Anlage eigne als für eine tiefe. Wenn man mir zwei Flaschen hinstellt, eine superseltene Abfüllung einer mir gut bekannten Spirituosengattung und eine einer Kategorie, die ich noch nicht kenne, fiele mir die Wahl sehr leicht: Ich würde die mir unbekannte nehmen, selbst auf das Risiko hin, damit auf die Nase zu fallen. Ich bezeichne mich darum nun offiziell als „Panspiritist“ – ich liebe alle Spirituosen, und lasse mich gern überraschen.
Entsprechend aufgeschlossen war ich dem Kornbrand- und Wodkatasting, das der ISW Ende 2021 veranstaltete. Der Titel klingt erstmal sehr nüchtern, Wodka hat seinen Ruf als spannungsloser Neutralsprit (eher zu unrecht) schon lange weg, Korn ist das, was manche Leute an der Kasse im Supermarkt noch schnell im Miniatur-5er-Set mitnehmen. Dass da auch extrem Hochwertiges vorhanden ist, entgeht einem, wenn man sich auf diese Vorurteile zurückzieht und nicht offen ist für die Realität. Aus der Brennerei Ehringhausen in Westfalen stammt Der Kleine Lord Nummer 06, ein im Ex-Banyuls-Fass gelagerter Dinkelkornbrand. Da geht mir als neugeborener Panspiritist direkt das Herz auf – ein ungewohntes Basismaterial, eine ungewöhnliche Verarbeitung als Lagerkorn, und dann noch eine seltene Vorbelegung des Reifungsfasses mit dem südfranzösischen Süßwein (siehe dazu am Ende noch ein Wort). Allein schon vom Namen und den Produktionsdetails her eine Spirituose, die ich per se spannend finde. Und, ohne zuviel vorwegnehmen zu wollen, ich wurde hier nicht enttäuscht.
Farblich hat sich das Fass austoben können, ein kräftiger, schon ins Terracotta übergehender Kupferton, mit orangenen und weißen Lichtreflexen. Beim Schwenken zeigt sich kaum eine Viskosität, die Flüssigkeit bewegt sich lebendig, hinterlässt dabei aber trotzdem einen fetten Film an der Glaswand, der sich langsam in Beine aufspaltet, die sich beim Ablaufen viel Zeit lassen.
Der Geruch des Kleinen Lords No. 6 verwirrt mich zunächst – ist das ein spanischer Brandy, mit leichtem Schwefel? Oder ist es ein milder, exotischer Whisky? Beides hätte ich, blind verkostet, geglaubt. Nach einer Weile kommt aber der Kornbrand stärker hervor, und die Verwirrung ist komplett. Der piekst schon etwas in der Nase, man darf erstmal nicht zu tief schnuppern. Dann folgen in loser Reihenfolge Eindrücke von sowohl von Rosinen und Trockenobst als auch reifen Früchten, Feigen und Pflaumen, dunkler Schokolade, und eine erkennbare Weinigkeit, dunkler, schwerer Rot- oder Süßwein eben, eine Note, die sicherlich das Banyuls-Fass beisteuert. Leichte Vanille und etwas Nuss, darüber aber der schon angesprochene sehr prägnante Schwefel, sogar ein Touch von Rancio ist da – ein faszinierendes Bouquet, das man, wie gesagt, nur schwer einordnen kann in die Kategorienwelt der Spirituosen. Hochspannend und ungewöhnlich!
Einen Korn mit 57,4% in Fassstärke abzufüllen ist schon nicht gewöhnlich, viele Korns kennt man eher mit deutlich unter 40%. Und man erwartet eine entsprechende Attacke am Gaumen – der initial einfach nicht kommt. Samtweich legt sich der kleine Lord auf die Zunge, breitet sich langsam im gesamten Mundraum aus und beginnt erst, wenn er diese Aufgabe erledigt hat, sich durch angenehme, leicht prickelnde Wärme deutlicher bemerkbar zu machen. Buttrig, süß, mit fetter Textur und richtig ausladender Breite fühlt man den Dinkelkornbrand erstmal eine Weile, bevor man ihn schmeckt. Die Aromen gehen von Rosinen über getrocknete Aprikosen und Pflaumen bis hin zu cremiger, buttriger Schokolade mit nur leicht gehobenem Kakaoanteil; Kokosfleisch ergänzt das, mit schön eingebundenen Anflügen von Rancio und Schwefel, die sich zum Schluss nochmal verstärken. Der Verlauf ist grandios gemächlich, da ist kein Stress in dieser Spirituose, nur Gemütlichkeit und entspannende Schwere. Gegen Ende kommt eine feine, edelherbe Trockenheit dazu, die mit milder Astringenz den Gaumen noch lange belegt und hübsch warm hält.



Herrlich komponiert, da passt jede Komponente perfekt zur anderen, die Teile greifen ineinander wie ein Uhrwerk, und zwar eins, das langsam tickt und jeden Zeigerschlag mit Muße auslaufen lässt. Irre, wie tief und gleichzeitig breit dieser Brand ist – selbst ein kleiner Schluck wirkt, als hätte man den ganzen Mund voll. Grandios, und ohne Mühe bestätige ich, was ich vor ein paar Wochen schon angekündig hatte: Das ist mit Sicherheit eine meiner persönlichen Spirituosen des Jahres 2021.
Für das Cocktailrezept habe ich mir einen Drink ausgesucht, der normalerweise mit spanischem Brandy gemacht wird – der Kleine Lord No. 6 hat genug dieser Charakteristik, um einen immer noch passenden, aber twistvollen Ersatz dafür im Spanish Armada darzustellen. Eine weitere Zutat, die ich vor kurzem für mich entdeckt hatte, habe ich angepasst: Statt Curry Bitters (die ich einfach nicht verfügbar habe, wer hat so etwas spezielles schon in der Heimbar), setze ich eine Prise Currypulver ein. Currypulver ist eine erstaunliche Zutat, die extrem gut in Cocktails funktioniert, auch wenn man das gar nicht erwartet.
Spanish Armada
1 oz / 30ml Brandy de Jerez
1 oz / 30ml gereifter Demerara-Rum
¼ oz / 10ml Blended Scotch
¼ oz / 10ml PX Sherry
¼ oz / 10ml Amer
1 Spritzer würzige Bitters
1 Spritzer Angostura Bitters
1 Messerspitze Curry-Pulver
Auf Eis rühren. Mit Orangenzeste absprühen.
[Rezept adaptiert nach Jessica Lambert]
Sehr gut gewählt ist die Apothekerflasche mit großem Drehverschluss, das passt ins Gesamtdesign, ebenso wie das Rücketikett mit vielen, klar strukturierten Informationen, solche Etiketten sehe ich einfach gern. Dort erfährt man auch Details wie dass diese limitierte Edition am 16.10.2014 destilliert und am 14.06.2021 als Single Cask ungefiltert abgefüllt wurde, bei mir in Flasche 11 von 369 – das ist wirklich eine kleine Auflage. Daraus erschließt sich mir auch der Reifungszeitraum, etwas über 5 Jahre, für einen Korn eine erkleckliche Zeit, und eine, die sich wirklich rentiert hat. Der „Fluff“, also die Marketingstory hinter dem Produkt, wird auf einem Pappeinleger klar von den technischen Dingen separiert erzählt.
Noch ein Wort zu Banyuls – ich hatte nun schon ein paar Spirituosen, die in einem Fass mit Vorbelegung dieses südfranzösischen Süßweins gereift wurden, da dachte ich mir, ich schaue mir das mal an. In Deutschland sieht man ihn sehr selten, in Frankreich findet man ihn auch in Supermärkten, wo ich mir dann auch ein günstiges Fläschchen des Georges d’Artigas Banyuls Traditionnel mitgeholt habe, 16% Alkoholgehalt zu knapp unter 10€. Er stammt aus der Gegend von Roussillon, unterliegt der AOP (geschützten geografischen Angabe) für diese Art Süßwein, der leicht gekühlt als Aperitif oder als Begleiter zu Foie Gras, Melonen und Schokoladen-Desserts empfohlen wird. Meine kurzen Eindrücke: Farblich ein dunkles Rubinrot, man kann nur schwer durchblicken. In der Nase sehr schwer fruchtig, viel überreifer Pfirsich, Brombeeren, Kirschsaft und ein Anflug von Gewürzen. Starksüß im Mund, sehr samtige, volle Textur, klar an milden Portwein und halbtrockenen Primitivo erinnernd. Kurz und leicht herbtrocken dann im Abgang. Kein Knüller, der mich umhaut, das ist aber auch wie gesagt erstmal ein Bildungstrinken-Basisprodukt, um eine grundsätzliche Vorstellung zu bekommen, was Banyuls eigentlich ist.


Während der oben angesprochenen Verkostung bei der Oktoberausgabe 2021 des ISW in Neustadt/Weinstraße war dieser Brand der meistdiskutierte, und obwohl wir Juroren eigentlich während der Arbeit still sein sollen, konnten sich viele beim Kleinen Lord No. 6 einfach nicht beherrschen – ich hörte vom Nebentisch die Phrase „den würde ich mir auch privat kaufen!“, dem kann ich voll zustimmen, was ich kurz danach auch getan habe. Dass er dort als Kategoriesieger hervorging und eine entsprechende Medaille bekam, verwunderte mich keine Minute. Und wer sich eine wirklich hervorragend gemachte, dabei aber ungewöhnliche und sicher im Bekanntenkreis Aufsehen erregende Spirituose ins Haus holen will, ist hier genau richtig.