Ich glaube, dass viele das dem Bier nicht zugetraut hätten. Die kleine Craftbeer-Szene hat den deutschen Biermarkt zum wackeln gebracht. Internationale Bierstile und nichtindustriell hergestellte Biersorten kratzen an den deutschen Pils- und Exportsockeln. Das deutsche Standardindustriepils ist zwar immer noch der unangefochtene Platzhirsch, doch die Genießer wenden sich Stück für Stück davon ab, hin zu Ale, Pale Ale, India Pale Ale, Stout, Porter und Imperial Stout. So weit ins Ausland muss man aber gar nicht gehen: Die Randerscheinungen Zwickel/Kellerbier, Eisbock, Weizenbock oder Rauchbier, zwar Bierfreunden immer schon ein Begriff und auch im Nischenhandel erhältlich, finden sich plötzlich auch in Getränke- und Supermärkten.
Auch im BBQ-Bereich ist seit wenigen Jahren ein Trend zum verkannten Produkt erkennbar, getrieben von jungen, modernen Grillern, die erkennen, dass das Rind eben nicht nur aus Filet und Hüfte besteht. Hanging Tender, auch Onglet oder Nierenzapfen genannt, landet bis heute in Deutschland oft im Hackfleisch. Dass man daraus ein herrliches, aromatisches, saftiges Steak zaubern kann, wird erst seit einigen Jahren wieder entdeckt. Ähnlich geht es anderen Teilen des Rinds, die im fleischkonservativen deutschen Bratenland zum genießerischen #Neuland gehören: Das Flank Steak erlebt eine Renaissance auf dem Grill, Tri Tip (Bürgermeisterstück) ebenso und sogar der langgeschmähte Ochsenschwanz ist wieder auf Restaurantkarten zu finden.
Aber nicht nur Carnivoren, auch Vegetarier (oder Fleischsättigungsbeilagensucher) orientieren sich neu im Gemüse- und Obstfach: Alte, nicht auf Ertrag getrimmte Kartoffelsorten bekommt man inzwischen auch im Supermarkt um die Ecke, ebenso Mangold, der als TK-Spinatersatz wiederbelebt wurde – oder Quitten, die bis vor kurzem höchstens in einer Marmelade punkten konnten, und inzwischen im deutschen Winter als Obst aus Spanien importiert werden, wie ich beim Obst- und Gemüsehändler meiner Wahl gestern sehen konnte. Pastinaken, deren Konsum für Carl-Barks-Übersetzerin Erika Fuchs noch eine herkulische Aufgabe für Onkel Dagobert darstellte, sind heute wieder in aller Munde.

Wieder weg von den festen Nahrungsbestandteilen, zurück zur flüssigen Variante. Prohibition-Era- oder sogar Pre-Prohibition-Era-Cocktailrezepte sind wieder en vogue, die teilweise fast völlig vergessen waren oder als altmodisch abgelehnt wurden. In einer Folge der Fernsehserie Suits lässt die Yuppie-Anwaltssekretärin Donna einen Kerl in einer Bar abblitzen, weil er einen Manhattan trinkt, was sie für keinen Männercocktail hält. Flairbartending-Bombastbomben, die mehr dem optischen Effekt als dem Geschmack huldigten, hatten diese Perlen an vielen Orten verdrängt.
Die Rückbesinnung macht aber nicht bei Rezepten halt: feine, ausgewählte Zutaten, oft sogar hausgemacht, sind auch bei Cocktails im Trend. Man schaue sich die Gewinnercocktails diverser Mixologie-Wettbewerbe an; da ist keiner dabei, der nicht mindestens einen selbstgemachten Sirup oder selbstaromatisierte Spirituosenvariante verlangen würde – etwas, was vor 10 Jahren als unnötig gesehen wurde, schließlich gab es Industriesirups in allen Geschmacksrichtungen. Moderne Bars mit Anspruch infundieren oder mazerieren selbst, sie reifen Cocktails in Fässern nach oder benutzen Konzepte aus der Molekularküche für Mixgetränke. Wer etwas auf sich gibt, lässt die in den 80ern so beliebten Massenrums und -bourbons weg, nimmt statt dessen hochwertigere Small-Batch-Produktionen auf, verwendet frischgepresste Säfte statt dem Sweet-and-Sour-Mix und arbeitet ehrlich und unprätenziös, eben genau nicht wie Tom Cruise in jenem schrecklichen Bar-Horrorfilm.
Die Konsumenten wurden durch die aufkommende Lebensmittelindustrie bereits in den 1950ern auf Fleischsorten, Gemüse und Getränke, die leicht industrialisiert herstell- und vertreibbar sind, getrimmt – es galt lange Zeit ja als modern, Tiefkühlkost und Fertiggerichte Frischkost vorzuziehen. Gleichzeitig wurde uns in den 80ern und 90ern vermittelt, dass „das Auge mitisst und -trinkt“, mit dem Effekt, dass nur noch das Auge zählte. Sobald eine Zutat einen kleinen, scheinbaren optischen Mangel aufwies (Fettadern in Fleisch, Trübung in Bier, nicht perfekte Obstform, kleine Cocktails statt im Halbliterglas) wurde sie als minderwertig wahrgenommen, und die tatsächlich minderwertigen Zutaten stattdessen bevorzugt, weil sie hübscher anzusehen waren. Dekoration über Funktion war das Motto – heutzutage sind die einst so beliebten mit Balsamicoessig vollgespritzten Teller in der Gourmetküche tabu.
Das ganze ist, so vermute ich, einfach eine zyklische Angelegenheit: Das Pendel hat in den späten 1990ern und frühen 2000ern seine maximale Auslenkung hin zum Industrielebensmittel hin erreicht, und beginnt nun, langsam aber stetig, seinen Rückschwung. Die Wiederermächtigung des Konsumenten und der verkannten Zutaten ist ein Trend, der nicht mehr aufzuhalten ist, wir als bewusste Alltagsgourmets wollen uns nicht mehr von sterilen Laboren und genussfernen Lebensmitteldesignern unser täglich Brot, fest oder flüssig, vorschreiben lassen.
So mancher Industrieriese hat das erkannt, und will mit auf den Zug aufspringen, und druckt nun einfach auf seine immer noch genauso wie vorher hergestellten Produkte die Buzzwords dieser Rückbesinnungsbewegung auf. Wir als Konsumenten müssen inzwischen doppelt vorsichtig sein, denn gelogen wird in der Lebensmittelindustrie was das Zeug hält. Die Industrie verlässt sich immer noch auf den großen Anteil von desinteressierten oder uninformierten Käufern, und basisinteressierte Käufer werden durch Werbungslügen, in denen als Reaktion auf das plötzliche Hinterfragen der Zutatenliste die Namen chemischer Zusätze in natürlich klingende Wörter gewandelt wurden, geködert – es wird noch lange dauern, bis ein echtes Verständnis seitens der Hersteller einsetzt. Wahrscheinlicher als Einsicht ist aber, dass die Lebensmittelindustrie denselben Weg wie aktuell die großen Energieerzeuger, die man auch für unverzichtbar hielt, gehen wird: Sehenden Auges, in der Vergangenheit lebend, in den Untergang.
Das heutige Interesse an Methoden (und deren Ablehnung), die die Spirituosenindustrie jahrelang ungescholten durchführen konnte, wie die heimliche Nachzuckerung, die undeklarierte Verwendung von künstlichen Aromastoffen und Zusätzen zur Geschmacks- und Qualitätsverschleierung, das Färben von Spirituosen mit Zuckerkulör sowie das Filtrieren von Bier und Spirituosen, das dem Aussehen eines Getränks einen höheren Stellenwert einräumt als dem Geschmack (hübsch verkauft sich besser), ist ein gutes Zeichen. Dennoch ist da im Spirituosenbereich noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten; bei einem großen Rumversandhändler waren unter den 10 meistverkauften Rums des Jahres 2015 (was der Verkäufer spannenderweise mit „besten Rums 2015“ synonym sieht) laut ihrem Januar-Newsletter 9 manipulierte Rums, und einer, von dem ich keine Daten habe – kein einziger nachgewiesenermaßen reiner Rum also. Ich würde mir für 2016 andere Zahlen wünschen.
Wir Genießer haben die Pflicht, diese Einstellung weiterzutragen, wie es auch die kleinen Craftbrauer und -destillierer, viele Sterne-Fernsehköche, moderne Barchefs und andere, an Qualität interessierte Gourmets tun. Wir dürfen uns nicht in unser feines, edles, elitäres Wolkenkuckucksheim zurückziehen und herablassend auf die uninformierten Massen herabblicken, sondern müssen vermitteln, dass es beispielsweise sinn- und genussvoller ist, eine gut ausgewählte Flasche für 40€ zu kaufen, als 4 im Vorbeigehen eingepackte für je 10€ – lieber gutes und dafür weniger, als viel und dafür schlechtes. Und wir dürfen uns von den Pseudogenießern, die sich lustig über die Aufklärungsversuche machen (was habe ich mir schon anhören müssen!), nicht abschrecken lassen, denn: Nichts ist weiter vom wahren Genuss entfernt als der Satz „hauptsache, es schmeckt, egal was drin ist“. Wer nicht zumindest im Ansatz weiß, wie das, was er isst, trinkt und sonst genießt, hergestellt wird, genießt nicht wahrhaftig, sondern konsumiert.