Boden und Sonne – Appleton Estate Hearts Collection 1993 und 2002

Appleton Estate Hearts Collection 1993 und 2002 Titel

„Terroir“ ist ein wichtiges Wort in der Welt des Weins. Von dort ist die Verwendung auch zu den Spirituosen herübergewandert, hier ist es allerdings durchaus kontrovers. Der Kritikpunkt an der Verwendung des Begriffs „Terroir“, wie er im Wein verwendet wird, ist letztlich, dass im Gegensatz zu Wein ein sehr dramatischer zusätzlicher Produktionsschritt dazukommt: die Destillation. Man kann durchaus der Meinung sein, dass das Brennen eines fermentierten Basismaterials sehr viel der Eigenheiten des Materials entfernt, insbesondere die feinen Strukturen, die im Wein genau das Terroir ausmachen. Robin Robinson, ein geschätzter Kollege von mir, propagiert darum, lieber den Begriff „Provenance“ zu verwenden, also „Herkunft“, was neben dem Boden auch die Produktionsanlagen und -orte, und die Menschen und ihr Handwerk miteinschließt. Natürlich könnte man einfach den Begriff des Terroir um diese Aspekte erweitern, doch genau das gehört mit zu den kontroversen Aspekten. Diskussion ist jedenfalls genug vorhanden.

Ich komme auf das Thema, das ich auf meinem Blog schon ein paarmal angesprochen habe, weil auf dem Begleittext zu den Appleton Estate Hearts Collection 1993 und 2002, die ich heute vorstelle, explizit erwähnt wird, dass diese Rums „one of the few rums to claim terroir“ sind. Es wird nicht weiter ausgeführt, warum ausgerechnet diese Rums nun Terroir aufweisen und beispielsweise andere von anderen Brennereien nicht – nimmt man die Robinsonsche Sichtweise an, wird das ganze aber selbstverständlich, denn, wie man als aufmerksamer Leser meiner Veröffentlichungen natürlich schon lange weiß, sind viele Rums aus Jamaica allein schon aufgrund der sehr dort besonderen Produktionsweise und der oftigen Verwendung hauseigenen Zuckerrohrs ganz sicher mindestens provenance-aufweisend. Die hier vorliegenden Rums tragen nun also das Terroir des Nassau Valley im Landesinneren von Jamaica in sich, als „Single Marque“ (also kein Blend aus verschiedenen Marques, die Appleton herstellt und die sich hauptsächlich durch ihre Estergehalte unterscheiden) speziell für diese Auflage ausgewählt von Master Blenderin Joy Spence.

Appleton Estate Hearts Collection 1993 und 2002

Gebrannt 2002, abgefüllt 2022, also runde 20 Jahre alt ist der Appleton Estate Hearts Collection 2002. Wie bei vielen Velier-Abfüllungen ist das Etikett bereits sehr sprechend, verzichtet auf Nostalgie und Kitsch, und listet schlicht Fakten über den Rum in der Flasche auf. „Total Congeners 834g/100 LAA“ liest man da, das sagt eigentlich ja nur den Rumnerds was, spielt aber auf das oben erwähnte Marque an, das ausgewählt wurde. Die Fässer, aus denen die Flüssigkeit nach den 20 Jahren komplett tropischer Reifung entnommen wurde, werden angegeben mit den Nummer 404082 bis 404101, da sieht man schonmal, dass bei Appleton kein schlampiges Warenhaus, in dem Fässer „vergessen“ werden (wie das manche Abfüller ja so behaupten), betrieben wird, sondern ein klares System. Wir haben eine von 1100 Flaschen bekommen, die für das VSGB-Projekt abgefüllt wurden, und zwar mit 63% Alkoholgehalt, also Fassstärke.

Appleton Estate Hearts Collection 2002 Single Estate Jamaica Rum

Hennarot im Glas, mit schönen orangenen Lichtreflexen – Farbstoff ist als Zusatz angegeben, er wird wohl für die gleichbleibende Farbe der Reihe genutzt, obwohl ich das für eine derartige, klar an Kenner orientierte Reihe für völlig unnötig halte. Die Konsistenz ist offensichtlich ölig, mit sehr rundem Schwenkverhalten und schweren Wellen. Unscharf abgegrenzte Beinchen laufen sehr langsam ab.

Ich mag die nicht ganz so extremesterigen Jamaikaner lieber als die Esterbomben, und hier wird mir das wieder vor Augen geführt. Wunderbare buttrige Marzipan-Noten, angenehme, milde mandelige Nussigkeit, dazu eine ganz ausgewogene Mischung aus reifer Ananas, grüner Banane und etwas Guave. Das Holz ist mit Vanilletönen vertreten, und man meint wirklich, etwas frischen Zuckerrohrsaft herauszuriechen. Minimalste Lacktöne sind vorhanden und fügen erwachsene Komplexität bei. Trotz der 63% Alkoholgehalt ziept und piekst da gar nichts in der Nase.

Das geht im Mund weiter, eine sehr weiche, runde Textur legt sich auf den Gaumen, initial ganz ohne jedes Feuer, natursüß und schwer. Die Fruchtigkeit übernimmt hier, eher in Richtung getrocknetes Obst allerdings, mit Erinnerungen an Kandiszucker, Bitterschokolade, gebrannten Mandeln, gebräunter Butter, dunklem Karamell und Sirop de Batterie. Ein paar quitschende Estertöne scheinen durch. Ein leichtes Prickeln auf der Zunge ist sehr angenehm und das einzige Zeichen des hohen Alkoholgehalts. Das Holz ist wirklich wunderbar integriert, zeigt sich sehr deutlich, aber ohne zu übernehmen.

Der Nachhall ist dann eisig-feurig, diese paradoxe Eigenschaft mancher Spirituosen fasziniert mich immer wieder. Leichtes Menthol kühlt den Gaumen und den Rachen, während ganz vorsichtig Jasminblüten und etwas grüner Blattschnitt sehr lange nachklingen.

Ein Träumchen, muss ich sagen, das trinkt sich herrlich entspannt und trotzdem mit ordentlich Wumms und Komplexität. So einen Rum wünscht man sich immer daheim zu haben – großartig.


Die Erwartungen an den Appleton Estate Hearts Collection 1993 sind entsprechend damit nun deutlich gestiegen. Erstmal führen wir uns aber auch hier die nackten Zahlen zu Gemüte. 63% Alkoholgehalt, wie schon zuvor, auch die 1100 Flaschen sind gleich geblieben. Sie wurden aber diesmal aus 13 statt aus 10 Fässern geholt, mit den Identifikationsnummern 413487 bis 413499. Die Fässer lagen 29 Jahre in einem Warehouse unter tropischen Bedingungen, nachdem der Inhalt der Fässer in einer Forsyth Pot Still gebrannt worden war. 1456g/hlpa Congeners sind dabei entstanden (man verwechsle nicht Congener mit Ester, letzteres ist eine Unterkategorie des ersteren).

Appleton Estate Hearts Collection 1993

Noch einen Ticken dunkler fühlt sich der ältere Rum an, Gebrannte Siena mit einem minimalen Rotstich. Das Leuchten, das sich im Glas dennoch zeigt, ist beeindruckend, mehr aber noch die Viskosität: in meinem Verkostungsglas verhält sich das wie Öl. Da schaut man einfach gern zu.

Noch lieber schnuppert man dann aber am Glas, da finden sich Banane, Shortbread, Marzipan, ein bisschen Asphalt, Wachsmalstifte und neues Leder, ein Hauch von Anis, viel frischer Zuckerrohrsaft, Kokosnussfleisch, gebrannte Mandeln und das daran klebende Karamell, viel Vanille und ein bisschen Butter, ein Anflug von Muskatnuss und etwas Ahornsirup. Man sieht, da ist verdammt viel Komplexität drin, wenn ich noch länger dran rieche, finde ich sicher noch mehr Eindrücke. Nicht jede Spirituose schafft es, soviel anzubieten – ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann.

Ein alter Armagnac, könnte man meinen, findet sich dann im Antrunk am Gaumen, die Frucht ist herrlich ausgeprägt, dazu etwas Traubigkeit und der lange Fasseinfluss. Letzterer hat den Brand nicht übernommen, prägt ihn aber natürlich mit Vanille und Tanninen. Melasse taucht auf, mit voller Pflaumenwürze, und schwerer, dichter, natürlicher Süße, die an braunen Kandiszucker und braune Butter erinnert. Süß, ja, dabei aber nicht klebrig, im Gegenteil, hier ist angenehme Trockenheit, unterstützt von einer runden, gaumenausfüllenden Konsistenz. Im Verlauf taucht erstmals etwas Menthol auf, mit Eindrücken von Anis, ohne ins Lakritzige abzudriften, und der Frischeeffekt wird immer stärker bis zum langen, anhaltenden, frischen und vollaromatischen Finish, bei dem dann die Gewürze wieder auftauchen, von Muskatnuss über Kardamom bis zum Piment. Der Geschmack ist somit nicht weniger komplex als die Nase – ein rundes Gesamtpaket.

Beim 1993er spürt man die Komplexität deutlicher als beim 2002er, er ist etwas schwieriger zu verstehen, aber die Mühe lohnt sich. Kein Rum zum Trinken nebenbei, sondern etwas, auf das man sich einlassen und Zeit mitbringen sollte.

Ich erwähne es immer wieder, schlicht weil es so liebevoll gemacht ist – das Design der Auflagen im VSGB-Projekt (Velier Small Great Bottles) erfreut den Kenner einfach. Das Herz geht mir auf, wenn ich die feinen Details betrachte, die großartige Haptik der Etiketten und Kartons befühle, hier wird an keiner Stelle gespart, und diese oberflächliche Qualität der Materialien betont dann einfach die unzweifelhafte Qualität der Brände, die sich darin befinden, noch einen Ticken. Wer eine Chance hat, an diese Kollektion heranzukommen, sollte sie nutzen. Einfach guter Stoff.

Veröffentlicht von schlimmerdurst

Hüte dich vor denen, die nur Wasser trinken und sich am nächsten Tag daran erinnern, was die anderen am Abend zuvor gesagt haben.

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