Die englischsprachige Wikipedia ist normalerweise mein erster Anlaufpunkt für allerlei Themen, in denen die deutsche Seite des partizipativen Online-Nachschlagewerks zu dürftig ausgestattet ist (was leider häufig der Fall ist, wenn es um Spirituosen geht). Recherchiert man dort über das Thema „Raki“, wundert man sich aber: selbst als Leser, der sich eigentlich informieren will, spürt man, dass hier zumindest teilweise Leute am Werk waren, die noch viel weniger Ahnung von Raki haben, als man selbst. Kein guter Zustand. Ich denke, ich werde mich bald mal dransetzen und die schlimmsten und offensichtlichsten Fehler dort ausbügeln.
Bis dahin kämpfe ich hier auf meinem Blog gegen das Verwirrspiel, das das Wort „Raki“ auslöst, an. Das erste und wichtigste ist die Auflösung der beinahen Namensgleichheit zu kretischem Raki – jener ist ein Tresterbrand, kein Weinbrand, das allein ist schon ein sehr deutlicher Unterschied. Für den türkischen Rakı werden frische Trauben ausgepresst und fermentiert. Den entstehenden Wein nennt man „Suma“, der dann zusammen mit Anis destilliert wird (noch so ein Unterschied zum kretischen Raki, und auch zum bulgarischen Rakija). Der Tekirdağ Rakısı No. 10, den ich heute hier bespreche, ist dahingehend ein besonderer Rakı, weil er der einzige Pot-Still-Raki auf dem türkischen Markt ist. Er wird dreifach gebrannt und am Ende auf eine Trinkstärke von 47,5% Alkoholgehalt eingestellt.
Noch ein Wort zur Aussprache – seitdem der türkische Staatspräsident Erdoğan in aller Munde ist, ist auch das türkische „weiche g“, geschrieben ğ, ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Bei dem Namen unserer Spirituose dient es, den Vorlaut zu verlängern, selbst wird es nicht gesprochen. Die Spirituosengruppe selbst wird genähert „Rake“ (man beachte den fehlenden Punkt auf dem i des türkischen Worts) gesprochen, zusammen klingt der Produktname also in etwa wie „Tekirdah rakese“. Ich spreche kein Türkisch, bitte um Verbesserung, falls ich hier Unsinn erzähle.
Makellos klar steht der Rakı im Glas, viele Beine gleiten nach dem Schwenken langsam nach unten. Er fühlt sich sehr schwer und ölig an. Die Nase muss nicht tief ins Glas gehalten werden, um die ersten Aromen des Tekirdağ wahrnehmen zu können – Schwaden des Geruchs ziehen schnell aus selbst einer kleinen Probe einen Meter weit durch den Raum. Anis und Süßholz. Ich gehe trotzdem ein bisschen näher ran, um Details wahrzunehmen. Anis und Wermutkraut dominieren hier, etwas kräuteriges liegt darunter. Stark süßlich insgesamt, etwas Orange, ein Touch von ungereiftem Weinbrand; leicht holzig und erdig. Kaum Alkohol, trotz der üppigen 47,5%.
Im Mund fällt zunächst die brummende Süße auf. Ich kämpfe mich durch die nicht übersetzte Textwüste auf der Flasche und finde die Zutatenliste, die ich für meine Leser mit Hilfe eines Onlinetools hier auch auf deutsch wiedergebe: Su (Wasser), yaş üzüm suması (frische, fermentierte Trauben), anason tohumu (Anissamen) und rafine beyaz şeker (raffinierter weißer Zucker). Die Regelungen für Süßung von Rakı legen laut türkischer Wikipedia einen Maximalwert von 10g/L fest, und es muss raffinierter weißer Zucker verwendet werden; da ist natürlich direkt eine Messung erforderlich. Ich zücke Messzylinder, Thermometer, Aräometer und Onlinerechner und ermittle einen Zuckergehalt von grob 10g/L; die Obergrenze des Erlaubten also, was nicht verwundert, das Mundgefühl hätte mich eigentlich sogar eine ganz andere Kategorie von Süßung erwarten lassen. Nun aber zurück zur Verkostung – Lakritz dominiert im Antrunk, im Verlauf kommt eine fruchtige Note dazu, die nur mühsam gegen die Hauptaromatik ankommt, aber erkennbar ist. Sternanis und ähnliche Gewürze ergänzen das Bild. Eine pfeffrige Schärfe entsteht.
Der Abgang ist sehr lakritzig, bitter, leicht scharf. Im Mund entsteht ein starkes, langandauerndes Betäubungsgefühl, das man von Anisspirituosen kennt, hier aber auf die Spitze getrieben ist – jeder Folgeschluck ist dadurch so gut wie neutralisiert. Der Abgang ist mittellang, weißpfeffrig heiß, mit Anklängen von Eukalyptus. Anisaromen klingen noch recht lange als Hauch aus der Kehle nach.
Die sehr deutliche Süße lässt mich dieses Getränk eher mit dem italienischen Sambuca vergleichen als mit dem kretischen Raki oder dem griechischen Ouzo, auch wenn wir hier nach der Definition keinen Likör vor uns haben wie bei Sambuca.
Pur trinkt das allerdings wohl nur selten jemand, der übliche Konsum erfolgt mit Wasser. Der Louche-Effekt, der ensteht, wenn ich den Tekirdağ 1:1 mit kühlem Leitungswasser vermische, ist schön anzusehen; die Geruchsveränderung erstaunlich. Dem Anis wird etwas die Kraft genommen, eine schöne, holzige Würze kommt zum Vorschein. Auch im Geschmack, der nun eine leichte Salzigkeit hervorbringt, schafft es auch die Traubenbasis, sich zu melden – die Fruchtigkeit gefällt, erinnert mich nun fast schon an weißen Pisco. Der unangenehme Betäubungseffekt verschwindet, die neu entstehende feinherbe Bitterkeit im Abgang gefällt mir sehr. Insgesamt ist diese Spirituose mit ordentlich Wasser versetzt sehr viel attraktiver und komplexer als pur. Der hohe Alkoholgehalt macht sich hier dann auch richtig gut, denn selbst verdünnt hat dieser Rakı dadurch ordentlich Power.
Diese Erfahrung macht mich natürlich sehr neugierig, wie sich der Tekirdağ Rakısı No. 10 in einem Cocktail schlägt. Ich muss sagen, dass der Name des Rakı Cocktail etwas arg einfallslos geraten ist; die Idee, einen Anisée mit Kokosnusscreme und Mandellikör zu kombinieren, ist dagegen geradezu ein Geniestreich. Schade, dass der Erfinder dieses Rezepts für mich nicht zu ermitteln war.
Rakı Cocktail
½ oz Rakı
½ oz Amaretto
½ oz Zitronensaft
½ Teelöffel Cream of Coconut
4 oz Orangensaft
Auf Eis shaken.
[Rezept nach unbekannt]
Die Flasche hat ihren Charme, insbesondere die Kupferapplikationen machen echt was her und sorgen ganz bestimmt für den einen oder anderen Impulsivkauf. Der Plastikschraubverschluss ist dagegen mehr funktional als hübsch, der darunter verborgene, im Flaschenhals installierte Nachfüllstop Mist, wie alle derartigen Entwicklungen, aber vielleicht den Spirituosenpirateriegegebenheiten in der Türkei geschuldet.
Für mich ist die Türkei auf einem denkbar schlechten Weg schon weit fortgeschritten und macht sich mir in den Nachrichten nicht gerade sympathisch; bei der aktuellen Lage fragt man sich schon etwas, wie lange noch Spirituosen in der Türkei hergestellt werden dürfen, wenn der neoosmanische Sultan seine islamistische Umgestaltung des Landes weiterbetreibt. Derartige rückwärtsgewandte und dabei gleichzeitig rein egoistisch machtorientierte Leute hatten in ihrem narzisstischen Wahn, anderen einen Lebensstil aufzwängen zu wollen, noch nie Respekt vor echter Kultur und Tradition – das Brennen und Genießen von Spirituosen gehört dazu. Dennoch hoffe ich aufs beste und will den Aufrechten in der Türkei, die sich nicht einschüchtern lassen, mit einem Glas Tekirdağ No. 10 gern virtuell zuprosten!